In einer anderen Welt (German Edition)
Läufer und sein Held vor, genauso wie Sokrates.
»Über Platon?«, entgegnete Sam. »Warum nicht Platon selbst?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Du solltest ihn lesen, aber ihm auch immer widersprechen«, fuhr er fort. »Irgendwo muss ich doch eine englische Platon-Übersetzung haben.« Er fing an, seine Stapel zu verschieben, und mein Vater half ihm. Ich hätte ihm auch gerne geholfen, aber mit der schlafenden Miau auf dem Schoß konnte ich mich nicht bewegen. Er hatte Platon auf Griechisch, auf Polnisch und auf Deutsch, und während er sich murmelnd durch die ganzen Stapel wühlte, wurde mir klar, dass er all diese Sprachen lesen konnte, genauso wie Hebräisch, und dass er, obwohl er ein komisches Englisch sprach und in einem kleinen gemieteten Zimmer wohnte, ein gebildeter Mann war. Während ich zuschaute, wie mein Vater ihm half, nach dem Buch zu suchen, entging mir nicht, dass sie einander mochten, obwohl sie das nicht offen zeigten. »Ach, hier«, sagte er schließlich. » Symposium – das ist ein guter Einstieg.«
Es war ein schmales Taschenbuch aus der Reihe Penguin Classics . »Wenn es mir gefällt, kann ich mir in der Bibliothek noch mehr bestellen«, sagte ich.
»Gute Idee! Nicht wie unser Daniel, der immer nur erfundene Geschichten liest und keine Zeit für die Realität hat. Bei mir ist es genau umgekehrt. Ich habe keine Zeit für Geschichten.«
»Eine Freundin von mir in der Schule ist genauso. Sie liest aus Spaß wissenschaftliche Essays.«
Wie sich herausstellte, hatte Sam einige der Essays von Asimov gelesen. Und er besaß ein Buch von Asimov über die Bibel! »Es stammt von einem jüdischen Atheisten, natürlich habe ich es«, sagte er.
Als es dunkel wurde, sprang mein Vater auf und bestand darauf, uns zum Essen einzuladen. Wir gingen in ein Lokal ganz in der Nähe, wo wir kleine Pfannkuchen aßen, die »Bliny« genannt werden, mit Räucherlachs und Rahmkäse. Das war wirklich lecker, vielleicht das Leckerste, was ich je gegessen habe. Dann gab es köstliche Teigtaschen, die mit Käse und Kartoffeln gefüllt waren und es sogar mit dem Räucherlachs aufnehmen konnten, und noch eine andere Art von Pfannkuchen mit Marmelade. Alle kannten Sam, und ständig kam jemand an unseren Tisch, um Hallo zu sagen und vorgestellt zu werden. Am Anfang war mir das ein wenig peinlich, aber ich gewöhnte mich bald daran, denn für Sam schien das alles völlig normal zu sein. Mir wurde klar, dass er unter diesen Leuten lebte, als wären sie seine Familie, seine Lebensgemeinschaft.
Ich mag Sam. Ich verabschiedete mich nur ungern von ihm. Er gab mir seine Adresse und ich ihm die von der Schule. Ich hätte mich noch gerne mit ihm über das Judentum unterhalten und darüber, was Sharon gesagt hatte, und dass ich mir überlegt hatte, eine Reis-Jüdin zu werden, aber nicht in Gegenwart meines Vaters. Er machte mich verlegen. Bei Sam ist das kein Problem. Zum einen muss ich ihm für nichts dankbar sein, zum anderen muss er wegen mir kein schlechtes Gewissen haben.
Wir fuhren ins Hotel. Kein Vergleich zu unserem Hotel in Pembrokeshire. Alles sehr anonym. Wir übernachten im selben Zimmer, was ich nicht erwartet habe, aber er ist fast sofort runter in die Bar gegangen, und ich habe hier alles für mich. Heute Nacht werden die Uhren zurückgestellt, also kann ich eine Stunde länger schlafen!
Symposium ist genial, genau wie Der Läufer und sein Held . Allerdings spielt es früher, als Alkibiades noch jung war. Es muss toll gewesen sein, damals zu leben.
Sonntag, 28. Oktober 1979
Ich sitze in einem Zug, dem großen Intercity von London nach Cardiff. Er fährt willkürlich durch Stadt und Land, wohin die Schienen ihn führen. Ich sitze in einem Wagen in einer Ecke, und niemand beachtet mich. Es gibt ein Zugrestaurant, wo man schauderhafte Sandwiches und grässliche Brause und Kaffee kaufen kann. Ich habe mir ein KitKat gekauft, das ich ganz langsam esse. Es regnet, und die Wälder und Wiesen sehen plötzlich ganz sauber aus und die Städte ganz schmutzig.
Es ist toll, meine eigenen Klamotten anzuhaben. Gestern hatte ich sie auch schon an, aber da ist es mir nicht so aufgefallen. Aber wie ich hier sitze und zum Fenster rausschaue, fühlt es sich wirklich gut an, Jeans zu tragen und mein Tolkien-T-Shirt anstatt diese schreckliche Uniform.
Es ist seltsam – ich schreibe das alles in Spiegelschrift, damit es niemand lesen kann, aber was jetzt kommt, würde ich am liebsten in doppelter Spiegelschrift schreiben, nur für
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