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In einer anderen Welt (German Edition)

In einer anderen Welt (German Edition)

Titel: In einer anderen Welt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Walton
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sichtbar, aber wenn sie es gewesen wäre, hätte ich sie das ganze vergangene Jahr über hinter mir hergezogen wie eine geborstene Brücke. Jetzt war sie wieder heil, und ich war wieder heil, wir waren wieder beisammen. »Festhalten oder sterben«, flüsterte er mir ins Ohr, und ich begriff, was er meinte: Ich konnte sie entweder hier festhalten, und das wäre schlecht, und ich glaubte ihm, obwohl ich es nicht verstand, oder ich konnte mit ihr durch das Tor treten und sterben. Das wäre Selbstmord. Aber ich konnte sie nicht loslassen. Ohne sie war alles so furchtbar gewesen, ein ganzes scheußliches Jahr lang. Ich hatte selbst sterben wollen, wenn es denn nötig war.
    »Erst zur Hälfte«, sagte Glorfindel, und er meinte damit nicht, dass ich ohne sie halb tot oder dass sie schon halb hindurch war, er meinte, dass ich Babel-17 erst zur Hälfte gelesen hatte, und wenn ich sie begleitete, würde ich nie erfahren, wie es ausging.
    Bestimmt gibt es merkwürdigere Gründe, am Leben zu bleiben.
    Es gibt Bücher. Und Tantchen Teg und Opa. Und Sam und Gill. Die Fernleihe. Bücher. Bücher, in die man sich hineinfallen lassen und die man sich über den Kopf ziehen kann. Und Glorfindel, der wirklich etwas für mich empfindet, so weit das Feen überhaupt möglich ist.
    Ich ließ los. Widerwillig, aber ich ließ los. Sie nicht. Loslassen würde also nicht genug sein. Wenn ich leben wollte, musste ich sie fortstoßen, obwohl die Verbindung zwischen uns noch immer bestand, obwohl sie weinte und meinen Namen rief und meine Hand so fest umklammert hielt, wie sie nur konnte. Das war das Schwerste, was ich je getan habe – es war noch schlimmer als der Tag, an dem sie starb. Noch schlimmer, als von ihr weggezerrt zu werden und mit ansehen zu müssen, wie der Krankenwagen mit ihr davonfuhr, während meine Mutter sich lächelnd über sie beugte. Noch schlimmer als der Augenblick, als Tantchen Teg mir sagte, dass sie tot war.
    Mor war immer tapferer gewesen als ich, praktischer, netter, einfach ein besserer Mensch. Sie war die bessere Hälfte von uns beiden.
    Aber jetzt hatte sie Angst, sie war allein und tot, und ich musste sie fortstoßen. Sie veränderte sich, während sie sich an mich klammerte, wurde zu Efeu, der sich um mich schlang, zu Seegras, zu Schleim, den ich unmöglich abschütteln konnte. Jetzt, da ich sie loswerden wollte, konnte ich es nicht mehr, und obwohl sie sich veränderte, wusste ich, dass sie weiterhin Mor war. Ich konnte es spüren. Ich hatte Angst. Ich wollte ihr nicht wehtun. Irgendwann verlagerte ich mein Gewicht auf mein Bein. Der Schmerz ließ die Verbindung reißen, wie er auch die Feen in die Flucht schlägt. Der Schmerz war etwas, das mein lebender Körper tun konnte, dasselbe wie ein Eichblatt aufheben und den Berg hinauftragen.
    Daraufhin ging sie weiter, oder versuchte es jedenfalls, aber das Zwielicht war der Dunkelheit gewichen, und sie konnte nicht mehr durch das Portal treten, es war nicht mehr da. Sie hatte wieder ihre eigene Gestalt angenommen und stand vor den Bäumen, sehr jung und sehr verloren, und fast hätte ich wieder die Hand nach ihr ausgestreckt. Dann war sie fort, von einem Augenblick zum anderen, wie sonst die Feen.
    Der Rückweg durch die Finsternis war lang und einsam. Bei jedem Schritt befürchtete ich, meiner Mutter zu begegnen, die herbeieilte, weil sie wissen wollte, was mit ihrem Plan schiefgelaufen war, sich der Seelen zu bemächtigen. Mor hatte ihr überhaupt erst die Möglichkeit dazu gegeben, das begreife ich jetzt, weil sie ihre Tochter war, ihr Fleisch und Blut. Die ganze Zeit musste ich daran denken, dass ich nicht rennen konnte, aber sie schon. Mor schien weiter von mir weg zu sein als je zuvor. Die Feen waren natürlich vor den Schmerzen geflüchtet. Selbst Babel-17 , das ich in meiner Tasche hatte, schien weit weg zu sein. Aber Tantchen Teg wartete mit dem Wagen, und Opa in Fedw Hir freute sich so sehr über meinen Besuch – wenn ich fortgegangen wäre, hätte es ihm das Herz gebrochen. Das Bett, in dem der Mann »Blubba, blubba, blubba« gemurmelt hatte, war leer, sie hatten seinen leeren Körper bereits fortgebracht. Er hatte Glück gehabt, dass er in jener Nacht gestorben war. Menschen, die im November sterben, müssen ein ganzes Jahr lang warten. Wie Mor. Was wohl mit ihr ist? Wird sie bis nächstes Jahr warten müssen?

Donnerstag, 1. November 1979
    Je mehr ich darüber nachdenke, umso weniger begreife ich, was geschehen ist. Gibt es in jedem Tal eine solche

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