In einer anderen Welt (German Edition)
in mein Zimmer kam, sich zu mir setzte und versuchte, mich anzufassen. Ich habe ihn gebissen, und zwar fest, und da hat er mich geschlagen, aber an dem Tag hat er mich in Ruhe gelassen. Ich wusste jedoch, dass die Sache damit noch nicht zu Ende war. Damals war ich noch vierzehn. Den Kamm von jemandem in einen Sumpf zu werfen, ist nicht Mord. Ich dachte, es hätte geklappt, als er fortzog.
Glorfindel sah mich nur an, und ich wusste, dass er mein Freund war, soweit das bei Feen eben möglich ist, denn sie sind nun einmal, wie sie sind. Vielen von ihnen sind die Menschen und die Welt völlig gleichgültig, und auch die anderen sind nicht wie wir. Ich weiß nicht, was es ihm bedeutete, dass zwischen uns etwas in der Luft lag. In Wirklichkeit heißt er gar nicht Glorfindel, er hat nicht einmal einen Namen. Er ist kein Mensch. Das war mir in dem Moment nur allzu bewusst.
Allmählich versank die Sonne hinter dem Hügel, auf dem wir saßen, aber ganz untergegangen war sie noch nicht; im Tal nebenan war es noch taghell. Aber wahrscheinlich gibt es immer ein Tal nebenan, ganz um die Welt herum, bis man am nächsten Tag ankommt. Unsere Schatten waren sehr lang. Glorfindel stand auf und sagte, ich solle das Laub in Form einer Spirale im Labyrinth verteilen, bis ich die beiden Ebereschen erreicht hatte. Das tat ich, und dann setzte ich mich wieder hin und wartete, während es dunkel wurde. Ich wusste nicht genau, ob ich irgendetwas sehen würde, oder ob es wie so oft sein würde – ich mache, was sie mir sagen, und es ergibt keinen Sinn, und ich erfahre auch nie, ob es geklappt hat oder nicht. Der Himmel verblasste, bis er völlig farblos war, aber noch nicht ganz finster. Ich musste daran denken, dass der Rückweg eine ziemliche Qual werden würde.
Da kamen sie durch das Zwielicht auf dem Schienenweg das Tal heraufgelaufen. Es waren Gespenster, nehme ich an, die Prozession der Toten. Keine blassen Könige und keine Jungfern, sondern abgearbeitete Männer und Frauen – ganz normale Menschen, nur eben tot. Niemand würde sie je für lebendig halten. Man konnte nicht direkt durch sie hindurchblicken, aber aus ihnen war jegliche Farbe gewichen, noch mehr als aus ihrer Umgebung, und sie wirkten irgendwie substanzlos. Einen der Männer erkannte ich. Er hatte im Heim in der Nähe von Opa gesessen und die ganze Zeit rumgeblubbert. Jetzt marschierte er leichten Schrittes den Berg hinauf. Sein Gesicht war ernst und gefasst – ein würdevoller Mann, der wusste, was er wollte. Er bückte sich, hob eines der Eichenblätter vom Pfad auf und hielt es wie eine Eintrittskarte hoch, als er zwischen den beiden Bäumen hindurchging. Ich sah niemanden, der es entgegennahm. In der Dunkelheit dort konnte ich rein gar nichts erkennen.
Einige der anderen liefen vor dem Eingang herum; jetzt waren sie so weit gekommen und konnten nicht hinein, und schuld daran war meine Mutter. Als sie sahen, wie der alte Mann das Blatt hochhielt, fingen sie selbst an, sich nach Blättern zu bücken. Dann gingen sie hindurch, einer nach dem anderen. Alle wirkten sie sehr ernst und würdevoll, niemand sprach, und jeder wartete, bis er an die Reihe kam. Ich weiß nicht, ob sie in die Erde gingen oder unter den Hügel oder in eine andere Welt oder hinunter zum Acheron oder so etwas. Eine fette Frau und ein junger Mann mit einem Motorradhelm schienen zusammenzugehören. Die Toten sahen einander, aber mich und die Feen, die neugierig am Weg standen, sahen sie anscheinend nicht. Der junge Mann bedeutete der Frau vorauszugehen, und das tat sie auch, so feierlich wie in der Kirche.
Dann sah ich Mor. Damit hatte ich nicht gerechnet. Sie schlenderte unbekümmert einher, ein Blatt in der Hand, als würde sie eine ernste Rolle in einem Spiel spielen. Ich rief ihren Namen, und sie drehte sich um, sah mich und lächelte so freudig, dass mir das Herz brach. Ich streckte die Hand nach ihr aus und sie nach mir, aber sie war nicht wirklich da, wie eine Fee, schlimmer als eine Fee. Sie wirkte ängstlich, wie sie so den Blick über den Pfad schweifen ließ; die Feen, die dort standen, entgingen ihr natürlich nicht.
»Lass los«, sagte Glorfindel dicht an meinem Ohr, ein Flüstern so warm, dass sich meine Haare bewegten.
Ich hielt sie nicht fest, und doch hielt ich sie fest. Unsere Hände waren ausgestreckt, ohne einander zu berühren, aber die Verbindung zwischen uns war spürbar. Sie schimmerte violett – die einzige Farbe weit und breit. Sie war nicht im gewöhnlichen Sinne
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