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In einer anderen Welt (German Edition)

In einer anderen Welt (German Edition)

Titel: In einer anderen Welt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Walton
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Januar 1980
    Gestern Vormittag wollte ich die Feen wirklich unbedingt finden. Zur Abwechslung bin ich über Common Ake raufgegangen. Eigentlich heißt es »Heck’s Common«, nach einem Mr Heck, aber alle sagen Common Ake dazu. Es ist Gemeindeland, gehört also niemandem, wie das meiste Land, bevor im 18. Jahrhundert alles eingezäunt wurde. Ich kann mir Aberdare nur schwer als Tal vorstellen, in dem ausschließlich Landwirtschaft betrieben wird, mit fast nichts außer St. John’s und der Hauptstraße, die von Brecon nach Cardiff führt, überhaupt keine anderen Straßen, und die ganze Kohle und das ganze Eisen unberührt unter der Erde. Einmal musste ich für ein Eisteddfod ein modernes Gedicht auf Walisisch auswendig lernen, das mit »Totalitariaeth glo« endete, dem Despotismus der Kohle. Unterwegs habe ich ein kleines Stück Kohle aufgelesen. Oft werden darin Fossilien gefunden, uralte Blätter und Blumen. Kohle ist organisch, organischer Torf, der unter dem Druck von Felsgestein zusammengepresst wurde und Flöze aus Karbonzeug bildet, das brennt. Wenn es noch weiter zusammengedrückt worden wäre, wären daraus Diamanten geworden. Ob Diamanten wohl brennen? Und würden wir sie verbrennen, wenn sie so weitverbreitet wären wie Kohle? Für die Feen gäbe es da keinen Unterschied – für sie sind das alles Pflanzen, die mit der Zeit zu Gestein geworden sind. Ich frage mich, ob sich die Feen an die Jurazeit erinnern, ob sie den Dinosauriern begegnet sind und was sie damals waren. Menschliche Gestalt hatten sie da bestimmt nicht. Und sie haben auch bestimmt kein Walisisch gesprochen. Ich rieb mit den Fingern über die Kohle, bis kleine Stückchen davon abblätterten. Ich weiß, was Kohle ist, aber was Feen sind, weiß ich nicht, jedenfalls nicht genau.
    Im Common Ake gibt es eine Stelle, die wir früher immer Dingly Dell genannt haben. Das ist einer der ältesten von unseren Namen, älter als die aus Der Herr der Ringe , und während ich das jetzt aufschreibe, ist er mir einerseits ein wenig peinlich, andererseits bin ich aber auch äußerst stolz auf ihn. Das Dingly Dell ist ein Ort, wo sich früher ein Steinbruch befand oder eine Kiesgrube oder so etwas, mit einem Steilhang auf drei Seiten, wie bei einem kleinen Amphitheater. An diesen Hängen wachsen Bäume und Brombeerbüsche. Ich glaube, das erste Mal waren wir mit Oma dort, als wir noch ziemlich klein waren, um Brombeeren zu pflücken. Ich weiß noch, dass ich damals mehr gegessen als gesammelt habe, aber das war meistens so. Als wir das erste Mal alleine dorthin gegangen sind, kamen wir uns sehr mutig vor.
    Heute war das Gestrüpp winterlich abgestorben, und von den Vogelbeeren waren die Blätter abgefallen. An einem fernen Himmel hing eine blasse Sonne. Als ich aus den Büschen trat, saß ein freches Rotkehlchen ganz in meiner Nähe und neigte den Kopf. Rotkehlchen sind oft auf Weihnachtskarten abgebildet, und manchmal werden damit auch Weihnachtsplätzchen verziert, weil sie im Winter nicht fortziehen. »Hallo«, sagte ich, »wie schön, dass du noch da bist.«
    Das Rotkehlchen antwortete mir nicht. Das hatte ich auch nicht erwartet. Aber mir war sofort bewusst, dass da jemand war. Ich schaute hoch und erwartete, einen Blick auf eine Fee zu erhaschen, hoffte inständig, Glorfindel zu entdecken, aber stattdessen stand dort Mor, am Fuß des Steilhangs, der von gefallenen Blättern bedeckt war. Sie sah aus wie, nun ja, wie Mor eben, aber in dem Moment wurde mir auch klar, dass sie überhaupt nicht mehr wie ich aussah. Bei unserer letzten Begegnung war mir das gar nicht aufgefallen. Ich bin gewachsen, und sie nicht. Ich habe Brüste. Mein Haar ist anders geworden. Ich bin fünfzehneinhalb, und sie ist immer noch vierzehn und wird es immer bleiben.
    Ich trat einen Schritt auf sie zu, und dann musste ich daran denken, wie sie sich an mich geklammert und zu dem Portal im Hügel gezerrt hatte, also blieb ich stehen. »Ach, Mor«, sagte ich.
    Sie sagte nichts. Sie war dazu nicht in der Lage, ebenso wenig wie das Rotkehlchen. Sie war tot, und die Toten können nicht sprechen. Dabei weiß ich sogar, wie man die Toten zum Sprechen bringt. Man muss ihnen Blut geben. Aber das ist Magie, und außerdem wäre es grässlich. So etwas kann ich unmöglich tun.
    Obwohl sie mir nicht antworten konnte, redete ich mit ihr. Ich erzählte ihr von der Magie und von Daniel und seinen Schwestern und wie ich von Liz davongelaufen war und von der Schule und dem Buchclub und allem

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