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In einer anderen Welt (German Edition)

In einer anderen Welt (German Edition)

Titel: In einer anderen Welt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Walton
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anderen. Wirklich seltsam war, dass sie sich, je mehr ich redete, immer weiter von mir zu entfernen schien, obwohl sie sich nicht bewegte, und auch der Unterschied zwischen uns wurde immer größer. Früher konnte uns niemand auseinanderhalten, obwohl das doch offensichtlich war. Seit sie tot ist, habe ich das fast vergessen, oder nicht unbedingt vergessen, aber ... ich habe von ihr einfach nicht als grundlegend verschieden von mir gedacht, sondern immer von uns beiden gemeinsam. Ich hatte das Gefühl gehabt, entzweigerissen worden zu sein, aber in Wirklichkeit war es das gar nicht, sie war mir weggenommen worden. Dabei gehörte sie mir gar nicht, es hatte schon immer Unterschiede gegeben, sie war ein Individuum, und als sie noch lebte, war ich mir dessen bewusst gewesen, aber seither habe ich das aus den Augen verloren, schließlich ist sie nicht mehr da, um für ihre Rechte einzustehen.
    Wenn sie am Leben geblieben wäre, hätten wir uns unterschiedlich entwickelt. Vermute ich jedenfalls. Ich glaube nicht, dass wir wie die Tanten geworden und unser ganzes Leben zusammengeblieben wären. Wir wären bestimmt immer Freunde geblieben, aber wir hätten an unterschiedlichen Orten gewohnt und unterschiedliche Freunde gehabt. Wir wären die Tanten der Kinder des anderen gewesen. Aber dafür ist es jetzt zu spät. Ich werde erwachsen werden, und sie nicht. Sie bleibt so, wie sie ist, und ich verändere mich, und ich möchte mich auch verändern. Ich möchte leben. Ich dachte, ich müsste für uns beide leben, denn sie kann nicht für sich leben, aber das kann ich nicht. Woher soll ich wissen, was sie getan hätte, was sie gewollt hätte, wie sie sich verändert hätte? Arlinghurst hat mich verändert, der Buchclub hat mich verändert, aber auf sie hätte das alles wahrscheinlich eine andere Wirkung gehabt. Es ist unmöglich, für jemand anderen zu leben.
    Ich konnte nicht anders, ich musste ihr Fragen stellen. »Kannst du nächstes Jahr in den Hügel hineingehen?«
    Sie zuckte mit den Achseln. Offenbar wusste sie das auch nicht. Was passiert wohl unter dem Hügel? Wohin gehen die Toten? Was für eine Rolle spielt Gott dabei? Die Leute reden vom Himmel wie von einem Familienausflug.
    »Kümmern sich die Feen um dich?«, fragte ich.
    Sie zögerte und nickte dann.
    »Gut!« Ich fühlte mich gleich ein wenig besser. Wenn man tot war, gab es Schlimmeres, als zusammen mit den Feen im Tal zu leben. »Warum reden sie nicht mit mir?«
    Sie sah mich verwirrt an und zuckte erneut mit den Achseln.
    »Kannst du ihnen von den Tanten erzählen und von dem, was sie vorhaben?«
    Sie nickte, eindeutig.
    »Kannst du sie bitten, mit mir zu reden? Ich mache mir solche Sorgen, Magie anzuwenden, und weiß nicht mehr, was ich tun soll.«
    »Du tust, was du tust«, sagte eine Stimme hinter mir, und ich fuhr herum, und da stand eine Fee, eine, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Er war nussbraun, von oben bis unten, und so knubbelig wie eine Eichel. Seine Haut bestand aus lauter Falten, und er hatte keine Menschengestalt, sondern glich eher einem Baumstumpf. Am meisten erstaunte mich, dass er englisch sprach, und genau das hat er gesagt, genau diese Worte. Was sie wohl bedeuteten?
    »Aber darf man das überhaupt?«, fragte ich. »In das Leben von jemandem eingreifen, ohne dass er es weiß? Du siehst vielleicht die Konsequenzen von dem, was du tust, aber ich nicht.«
    »Du tust, was du tust«, sagte er noch einmal. Dann war er nicht mehr da, und ich hörte ein dumpfes Geräusch. Wo er gerade noch gewesen war, lag jetzt ein Gehstock von derselben Farbe wie seine Haut, mit einem Griff, der in der Form eines Pferdekopfes geschnitzt war.
    Ich bückte mich, um ihn aufzuheben. Er hatte genau die richtige Länge für mich, und der Griff schmiegte sich angenehm in meine Hand. Ich schaute mich nach Mor um, aber sie war ebenfalls verschwunden. Der Wind wehte in die Talsenke herab, und die toten Blätter raschelten, aber hier war niemand mehr.
    Ich habe beide Stöcke mitgenommen, den Feenstock und meinen alten. Meinen alten werde ich bei Opa lassen, er gehört sowieso ihm, und diesen hier behalte ich. Gut möglich, dass er bei Sonnenaufgang verschwindet, aber eigentlich glaube ich das nicht. Sein Gewicht lässt das eher unwahrscheinlich erscheinen. Ich werde einfach behaupten, er wäre ein Weihnachtsgeschenk. Vielleicht stimmt das sogar. Er gefällt mir.
    Du tust, was du tust.
    Heißt das, dass es keine Rolle spielt, ob es Magie ist oder nicht – alles, was

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