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In einer Familie

In einer Familie

Titel: In einer Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Mann
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ihre Hände mit einem krachenden
    Geräusch der Knochen sich krampften, als wollten
    sie das furchtbare Bild auseinanderreißen. Es war
    dicht vor ihr, sie sprang mit einem Schrei einen
    Schritt vor, wild in die Luft greifend. In die Schleppe
    ihres Gewandes verwickelt, stürzte sie vornüber und
    verharrte eine Minute knieend. Als sie sich mit lee-
    ren Händen aufgerafft und Alles verschwunden
    fand, starrte sie irr um sich her, und plötzlich wußte
    sie, daß sie allein sei, wie sie es niemals vorher ge-
    wußt. Aus dem Zimmer wich, was den Raum füllte,
    die dicht stehenden Möbel und die Etagèren, auf de-
    nen hundert Kleinigkeiten sich drängten, die Al-
    bums und Bilder, die Teppiche und Vorhänge waren
    wie von einem Abgrund verschlungen. Die Wände
    waren kahl, der Raum weit und immer weiter. Es gab
    nichts mehr als etwas Ungeheures, das in graue
    Schatten wie in die Unendlichkeit auslief. Rings um
    sie her fühlte die Unglückliche die Einsamkeit lie-
    gen, gleich einem wilden, ausgehungerten Tiere, das
    sie mit leeren, übergroßen Augen ansah. Das Tier
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    sog die Luft ein, ihre Lebensluft: sie meinte, nicht
    mehr atmen zu können, und wie ein Erstickender
    mit den Gliedern um sich schlägt, fühlte sie sich in
    ihrer Lebensnot zu einer Gewaltsamkeit gedrängt,
    sie wußte nicht, zu welcher? Sie rannte umher und
    begann zu suchen, sie wußte nicht was? Sie dachte
    nicht mehr, wenigstens nicht in dem Sinne, wie man
    von menschlichem Denken spricht. Der Rest ihres
    Lebenswillens gab sich aus, das war Alles, und er
    that es auf eine Weise, die Bewußtsein und Verant-
    wortlichkeit ausschloß. Im Zimmer ihres Gatten zö-
    gerte sie, wie in Erinnerung an den Fund, den sie
    hier bereits einmal gethan. Was ist in solchem
    Augenblick Erinnerung? Ein schwacher Hauch, der
    einen dichten, dichten Schleier heben möchte. Man
    hat ihn eine Sekunde gespürt, der Schleier bleibt lie-
    gen. Wenn sie nicht wußte, was sie suchte, so begriff
    sie vielleicht ebensowenig, was sie gefunden hatte.
    Sie betrachtete die zierliche, silberbeschlagene Pi-
    stole, die ihre hastigen Finger unter einem Haufen
    von Papieren hervorgewühlt, ganz ratlos, mit der
    Hand über die glühende Stirn fahrend. Es erschien
    dennoch kein Gedanke, und was sie in der Folge
    that, war nichts anderes als die Bewegung des in den
    Abgrund Stürzenden, der mit ausgespreizten Ar-
    men den am Rande Stehenden mit sich reißt. Kein
    Impuls kann heftiger sein als dieser; der Moment ist
    einzig, es gibt weder Für noch Wider.
    Sie prüfte nicht, ob das Spielzeug geladen, sie
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    hatte schon den Mantel umgeworfen, das Spitzen-
    tuch hing lose von ihrem Haupte, sie war schon die
    Treppe hinab. Einige Schritte weiter hielt sie einen
    Einspänner an. Draußen an der Schillerstraße stieg
    sie aus, um das Haus zu erfragen.
    Wellkamp und Anna schritten soeben von der
    kleinen Landungsbrücke, wo ihr Boot angelegt, die
    Terrassen ihres Gartens hinan, aufeinander gestützt,
    langsam, mit der süßen Mattigkeit, welche die leichte
    Anstrengung des Ruderns in der weichen Frühlings-
    luft ihnen gegeben hatte. Sie hatten von unten das
    Herankommen Doras nicht bemerken können; nun
    sahen sie plötzlich auf der Höhe des Gartens, von
    der sie noch einige Stufen trennten, die dunkle Ge-
    stalt stehen, die sich gegen den lichten Himmel ver-
    größert abhob. Beide machten bei dieser unvorher-
    gesehenen Erscheinung eine Bewegung des Schrek-
    kens. Wellkamp blieb halb abgewandt stehen, ohne
    sich über eine Auffassung der Lage schlüssig werden
    zu können. Dagegen hatte Anna sofort ihre Fassung
    wiedergewonnen. Es war ihr keine Selbstüberwin-
    dung anzumerken, während sie der ehemaligen
    Feindin, der Frau, die ihr den größten Schmerz ihres
    Lebens zugefügt, die Hand entgegenstreckte.
    »Ich weiß wohl«, sagte sie, »daß wir Unrecht ha-
    ben, Dir nicht sofort von unserer Rückkehr Anzeige
    gemacht zu haben. Aber sei gewiß, daß ich es nicht
    unterlassen hätte. Es muß unter uns allen Frieden
    geschlossen sein, ehe uns ganz wohl werden kann.«
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    Sie erwartete, daß Dora ihr einen Schritt entge-
    genkäme. Als nichts davon geschah, erhob sie zum
    erstenmal aufmerksam den Blick zu dem Gesicht der
    Obenstehenden und ließ nun selbst den Arm sinken,
    bestürzt durch die gleichsam verschlossene, jedes
    Ausdrucks beraubte Miene, mit den zwischen ihr
    und ihrem Gatten ins Leere starrenden Augen. Nur
    auf der Stirn schien sich etwas zu bewegen, etwas wie
    eine

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