In einer Familie
ihre Hände mit einem krachenden
Geräusch der Knochen sich krampften, als wollten
sie das furchtbare Bild auseinanderreißen. Es war
dicht vor ihr, sie sprang mit einem Schrei einen
Schritt vor, wild in die Luft greifend. In die Schleppe
ihres Gewandes verwickelt, stürzte sie vornüber und
verharrte eine Minute knieend. Als sie sich mit lee-
ren Händen aufgerafft und Alles verschwunden
fand, starrte sie irr um sich her, und plötzlich wußte
sie, daß sie allein sei, wie sie es niemals vorher ge-
wußt. Aus dem Zimmer wich, was den Raum füllte,
die dicht stehenden Möbel und die Etagèren, auf de-
nen hundert Kleinigkeiten sich drängten, die Al-
bums und Bilder, die Teppiche und Vorhänge waren
wie von einem Abgrund verschlungen. Die Wände
waren kahl, der Raum weit und immer weiter. Es gab
nichts mehr als etwas Ungeheures, das in graue
Schatten wie in die Unendlichkeit auslief. Rings um
sie her fühlte die Unglückliche die Einsamkeit lie-
gen, gleich einem wilden, ausgehungerten Tiere, das
sie mit leeren, übergroßen Augen ansah. Das Tier
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sog die Luft ein, ihre Lebensluft: sie meinte, nicht
mehr atmen zu können, und wie ein Erstickender
mit den Gliedern um sich schlägt, fühlte sie sich in
ihrer Lebensnot zu einer Gewaltsamkeit gedrängt,
sie wußte nicht, zu welcher? Sie rannte umher und
begann zu suchen, sie wußte nicht was? Sie dachte
nicht mehr, wenigstens nicht in dem Sinne, wie man
von menschlichem Denken spricht. Der Rest ihres
Lebenswillens gab sich aus, das war Alles, und er
that es auf eine Weise, die Bewußtsein und Verant-
wortlichkeit ausschloß. Im Zimmer ihres Gatten zö-
gerte sie, wie in Erinnerung an den Fund, den sie
hier bereits einmal gethan. Was ist in solchem
Augenblick Erinnerung? Ein schwacher Hauch, der
einen dichten, dichten Schleier heben möchte. Man
hat ihn eine Sekunde gespürt, der Schleier bleibt lie-
gen. Wenn sie nicht wußte, was sie suchte, so begriff
sie vielleicht ebensowenig, was sie gefunden hatte.
Sie betrachtete die zierliche, silberbeschlagene Pi-
stole, die ihre hastigen Finger unter einem Haufen
von Papieren hervorgewühlt, ganz ratlos, mit der
Hand über die glühende Stirn fahrend. Es erschien
dennoch kein Gedanke, und was sie in der Folge
that, war nichts anderes als die Bewegung des in den
Abgrund Stürzenden, der mit ausgespreizten Ar-
men den am Rande Stehenden mit sich reißt. Kein
Impuls kann heftiger sein als dieser; der Moment ist
einzig, es gibt weder Für noch Wider.
Sie prüfte nicht, ob das Spielzeug geladen, sie
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hatte schon den Mantel umgeworfen, das Spitzen-
tuch hing lose von ihrem Haupte, sie war schon die
Treppe hinab. Einige Schritte weiter hielt sie einen
Einspänner an. Draußen an der Schillerstraße stieg
sie aus, um das Haus zu erfragen.
Wellkamp und Anna schritten soeben von der
kleinen Landungsbrücke, wo ihr Boot angelegt, die
Terrassen ihres Gartens hinan, aufeinander gestützt,
langsam, mit der süßen Mattigkeit, welche die leichte
Anstrengung des Ruderns in der weichen Frühlings-
luft ihnen gegeben hatte. Sie hatten von unten das
Herankommen Doras nicht bemerken können; nun
sahen sie plötzlich auf der Höhe des Gartens, von
der sie noch einige Stufen trennten, die dunkle Ge-
stalt stehen, die sich gegen den lichten Himmel ver-
größert abhob. Beide machten bei dieser unvorher-
gesehenen Erscheinung eine Bewegung des Schrek-
kens. Wellkamp blieb halb abgewandt stehen, ohne
sich über eine Auffassung der Lage schlüssig werden
zu können. Dagegen hatte Anna sofort ihre Fassung
wiedergewonnen. Es war ihr keine Selbstüberwin-
dung anzumerken, während sie der ehemaligen
Feindin, der Frau, die ihr den größten Schmerz ihres
Lebens zugefügt, die Hand entgegenstreckte.
»Ich weiß wohl«, sagte sie, »daß wir Unrecht ha-
ben, Dir nicht sofort von unserer Rückkehr Anzeige
gemacht zu haben. Aber sei gewiß, daß ich es nicht
unterlassen hätte. Es muß unter uns allen Frieden
geschlossen sein, ehe uns ganz wohl werden kann.«
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Sie erwartete, daß Dora ihr einen Schritt entge-
genkäme. Als nichts davon geschah, erhob sie zum
erstenmal aufmerksam den Blick zu dem Gesicht der
Obenstehenden und ließ nun selbst den Arm sinken,
bestürzt durch die gleichsam verschlossene, jedes
Ausdrucks beraubte Miene, mit den zwischen ihr
und ihrem Gatten ins Leere starrenden Augen. Nur
auf der Stirn schien sich etwas zu bewegen, etwas wie
eine
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