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In einer Familie

In einer Familie

Titel: In einer Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Mann
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Falte, die über der Nasenwurzel kam und ver-
    schwand, als sei es eine Idee, die nicht zum Durch-
    bruch gelangen könne. Dann öffnete sich langsam
    der Mantel, eine Hand bewegte sich daraus hervor,
    die ein winziges Geschoß emporhob, um es tastend
    auf Wellkamp zu richten. Mit dem selben Augen-
    blicke, der sie diese Bewegung erkennen ließ, war
    Anna bereits zum Schutze vor den Geliebten ge-
    sprungen, den sie mit aller Stärke ihrer rückwärts
    gebreiteten Arme umklammerte. Der Mann ver-
    mochte sich nicht zu rühren, Anna erwartete den
    Schuß, und es hatte noch Niemand den nächsten
    Atemzug gethan, als sich die Mündung der Pistole
    wendete, um eine Sekunde lang gegen Doras eigene
    Schläfe gerichtet zu bleiben. Indes sollte ihr die That
    erspart bleiben. Noch rechtzeitig genug hörte ihr
    müdes Herz zu schlagen auf, daß ihre schlanke Ge-
    stalt ohne die Verunstaltung des Selbstmordes in die
    Kniee sinken konnte.
    Was sie die Waffe gegen sich selbst richten ließ,
    konnte gewiß ein Instinkt sein, so dunkel und uner-
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    klärlich, wie derjenige, der sie hergeführt. Es wäre so
    viel menschlicher und tröstlicher, wenn es ein letztes
    Aufleuchten ihrer verlöschenden Seele war, das ihr
    in einer deutlichen Vision die Größe und Unwider-
    stehlichkeit jener Liebe offenbarte, die dort opferbe-
    reit den Geliebten mit dem Leibe deckte, und gegen
    die diese Waffe so unwirksam blieb wie alle andern.
    Wenn sie so als letzte Erkenntnis eben das mit hin-
    über nahm, was so recht den Widerspruch gegen Al-
    les, woran ihr Leben gehangen, bedeutete, so mochte
    dieses verfehlte Leben wohl in einem höhern Sinne
    als gesühnt erscheinen, und die schöne Idee von
    einer Vergebung der Sünden brauchte ihrem Ende
    nicht fern zu bleiben.
    Als Wellkamp aus einer längeren Betäubung zu sich
    kam, fand er sich allein an dem Lager der einst Ge-
    liebten. Er war mechanisch gefolgt, als man sie hin-
    aufgetragen und gebettet hatte. Der Gatte war her-
    beigeholt, dann war der Arzt erschienen. Es war Al-
    les zu Ende, und nun erst hatte man sich seiner erin-
    nert, der teilnahmslos daneben stand, und hatte ihn
    da gelassen, in stiller Nachsicht mit den Beziehun-
    gen, die ihn mit Dora verbunden, und die der Tod
    plötzlich fast erlaubt erscheinen machte. Denn der
    Triumph des Todes über alle Rechte der Lebenden
    ist so vollständig, daß angesichts seiner sogar die
    Schuld das Ausgeschlossene, Heimliche, das ihr an-
    haftet, abzulegen wagt. Kaum allein, war er ohne Be-
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    sinnung nieder gesunken, mit dem Körper gegen
    den Bettrand, und als er nun zu sich kam, fühlte er in
    seiner Hand eine andere, die er beim Falle ergriffen,
    und ohne deren Stütze er zu Boden geschlagen wäre.
    Anfangs mochte er dieser Hand seine eigene Wärme
    mitgeteilt haben, nun aber hatte sie gesiegt und die
    seinige bis in den Arm hinauf erkältet. Er ließ sie
    dennoch nicht los; es that ihm wohl, etwas von ihrem
    Tode in seinem Blute zu spüren. Er drückte sie fe-
    ster, während er in der schon hereinbrechenden
    Dämmerung ihre Züge erspähte, seine fiebernden
    Blicke immer tiefer darein versenkte und nun seiner-
    seits die Wiederbelebung ihrer gemeinsamen Ver-
    gangenheit anstellte, der sie sich in ihren letzten Nö-
    ten hingegeben hatte. Er sah Alles wieder vor sich,
    erkannte Alles wieder bis auf längst vergessene Klei-
    nigkeiten, Unterschiede in der Entwickelung seines
    Gefühls, auf die er kaum Gewicht gelegt, und die
    ihm nun bedeutend deuchten. Der Grund war, daß
    stets erst das Ende der Dinge ihnen einen Sinn gibt.
    Wer nach dem Untergange der Welt noch da wäre,
    würde sie begreifen. Wellkamp ging nun sicheren
    Schrittes durch das Labyrinth seiner Leidenschaften,
    dem er früher zögernd, eine Beute seiner Begierde,
    nachgegangen. War doch jetzt der Ausgang da, vor
    seinen Augen. »Es hat Alles so sein müssen.« Dies
    war der schmerzliche und doch so wohlthuend resi-
    gnierte Gedanke, der jede seiner Erinnerungen be-
    gleitete. Er erbebte unter den tiefinnern Schauern je-
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    nes nachträglichen Fatalismus, den wir Alle kennen.
    Wiederholt nicht dieses wunderliche Gefühl in be-
    grenzteren Formen jene unsere Unfähigkeit, in der
    Vorstellung, die wir uns von unserem Gotte machen,
    über unsere menschlichen Begriffe hinaus zu greifen?
    Wie wir ihn nach unserem Bilde denken, so vermö-
    gen wir auch uns selbst nicht anders zu sehen, als wir
    uns kennen. Wir wären uns entfremdet, wenn wir
    uns anders dächten als wir sind.

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