In einer Person
Jahrgangs 1931 zu verweilen; im Jahrbuch 1932 der Favorite
River Academy zog niemand meine Aufmerksamkeit auf sich, auch keiner der
Ringer. Auf den Theaterclub-Fotos der Jahre 1933 und 1934 gab es ein paar als
Mädchen verkleidete Jungs, die (wenigstens auf der Bühne) überzeugend feminin
aussahen, doch diese Fotos beachtete ich nicht weiter, und ich [333] übersah
deshalb Miss Frost komplett auf den Mannschaftsfotos
der Ringer aus den Jahren 1933 und 1934, wo sie in der letzten Reihe stand.
Der Schocker war die Eule des Jahres 1935,
also Miss Frosts letztes Schuljahr auf der Favorite River Academy. In diesem
Jahr war Miss Frost – sogar als Junge – unübersehbar. Sie saß in der ersten
Reihe, weil »A. Frost« 1935 als Kapitän der Ringermannschaft geführt wurde; in
der Legende unter dem Mannschaftsfoto tauchte nur der Anfangsbuchstabe »A.«
auf. Sogar im Sitzen war sie dank ihres langen Oberkörpers einen Kopf größer
als die anderen Jungen in der ersten Reihe, und sie fiel mir wegen ihrer
breiten Schultern und großen Hände genauso auf, als wenn sie wie ein Mädchen
angezogen und geschminkt gewesen wäre.
Ihr längliches, hübsches Gesicht hatte sich nicht verändert,
allerdings war ihr dichtes Haar ungewohnt kurz geschnitten. Rasch blätterte ich
zu den Porträtfotos der Abschlussklässler. Zu meiner Überraschung stammte Albert Frost aus First Sister, Vermont – ein Externer, kein
Internatsschüler –, und auch wenn der achtzehnjährige Albert angab, sein
zukünftiges College oder seine spätere Universität sei noch nicht entschieden,
fand ich aufschlussreich, welche Laufbahn der junge Mann anstreben wollte.
Albert hatte »Literatur« angegeben – höchst passend für eine zukünftige
Bibliothekarin und einen gutaussehenden jungen Mann, der sich anschickte, eine
annehmbare (wenn auch kleinbrüstige) Frau zu werden.
Vermutlich hatte Tante Muriel sich an Albert Frost erinnert, den
gutaussehenden Kapitän des Ringerteams des Abschlussjahrgangs 1935, und Muriel
meinte, als Junge habe [334] Miss Frost » früher mal sehr gut ausgesehen«. (Das hatte Albert
wirklich.)
Mich überraschte nicht, im Jahrbuch Albert Frosts Spitznamen auf der
Favorite River Academy zu lesen. Er lautete »Big Al«. Miss Frost hatte es ernst
gemeint, als sie mir erzählte, »alle« hätten Al zu ihr gesagt – darunter sehr
wahrscheinlich auch meine Tante Muriel.
Ich war ehrlich überrascht, unter den Porträtfotos des
Abschlussjahrgang 1935 noch ein weiteres Gesicht wiederzuerkennen. Robert
Fremont, mein Onkel Bob, hatte mit Miss Frost zusammen seinen Abschluss
gemacht. Bob, dessen Spitzname damals »Tennisarm-Bob« war, musste Miss Frost
gekannt haben, als sie noch Big Al war. (Es gehörte zu den kleinen Zufällen des
Lebens, dass Robert Fremont in der Eule von 1935 auf
der Seite gegenüber von Albert Frost abgebildet war.)
Auf meinem kurzen Weg vom Jahrbuchraum zur Stadtbücherei von First
Sister wurde mir eins klar: Jeder in meiner Familie, zu der seit einigen Jahren
nun auch Richard Abbott gehörte, musste gewusst haben, dass Miss Frost als Mann geboren wurde – und sehr wahrscheinlich immer noch
einer war. Selbstredend hatte mir niemand erzählt,
dass Miss Frost ein Mann war; schließlich war in meiner Familie mangelnde
Offenheit die Regel.
Als ich in dem schwach erleuchteten Vestibül der Stadtbücherei vor
dem Spiegel stehen blieb, wo Tom Atkins erst kürzlich über sich selbst
erschrocken war, und mein ängstliches Gesicht betrachtete, kam mir der Gedanke,
dass in First Sister, Vermont, so ziemlich jeder eines bestimmten Alters
gewusst hatte, dass Miss Frost ein Mann war, [335] jedenfalls jeder über vierzig,
der Miss Frost als Frau in einem Ibsen-Stück bei einer dieser Laienproduktionen
der First Sister Players gesehen hatte.
Später fand ich Miss Frost in den beiden Jahrbüchern von 1933 und
1934 auch auf den Fotos der Ringermannschaft; A. Frost wirkte darauf nicht ganz
so groß und breitschultrig, vielmehr duckte sie sich jeweils so verunsichert in
die letzte Reihe, dass ich sie übersehen hatte.
Und auch auf den Fotos des Theaterclubs hatte ich sie übersehen. A.
Frost wurde immer als Frau besetzt; sie hatte in etlichen unterschiedlichen
Frauenrollen auf der Bühne gestanden, dabei aber so groteske Perücken getragen
und derart große Brüste gehabt, dass ich sie nicht wiedererkannt hatte. Was
musste das für ein Mordsspaß für die Jungs gewesen sein – Big Al, den Kapitän
ihrer Ringermannschaft,
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