In einer Person
Bibliothek würde mich so wohlwollend aufnehmen wie meine alte
Schulbücherei? Ich war auf Favorite River ein guter Schüler und ein sehr guter Ringer gewesen – nach pennsylvanischen Maßstäben
vielleicht nicht ganz so gut, aber in New England schon. Doch als ich als Frau nach First Sister zurückkehrte, wollte die
Favorite River Academy mit jemandem wie mir natürlich nichts zu tun haben –
nicht in der Nähe all dieser beeinflussbaren Jungs!
Jeder ist in gewisser Hinsicht naiv, William, und ich war eben in dieser
Hinsicht naiv. Ich war naiv genug, um nicht darauf vorbereitet zu sein, dass
sie mich als Miss Frost nicht haben wollten. Nur weil
dein Grandpa Harry im Vorstand der Stadtbücherei saß – dieser putzigen alten
öffentlichen Bibliothek, für die ich als Bibliothekarin völlig überqualifiziert
war –, bekam ich diese Stellung hier.«
»Aber warum wollten Sie in First Sister bleiben – oder an der
Favorite River Academy arbeiten, einer scheußlichen Schule, wie Sie selbst sagen?«, fragte ich sie.
Obwohl ich erst achtzehn war, stand für mich fest, dass ich nie
wieder an die Favorite River Academy oder in das Dreckskaff First Sister,
Vermont, zurückkehren wollte. Ich konnte es nicht erwarten wegzukommen,
irgendwo anders zu sein – egal wo –, um Sex mit jedem
zu haben, mit dem [342] ich Sex haben wollte, ohne von all diesen sattsam
bekannten Leuten, die mich zu kennen glaubten,
angeglotzt und verurteilt zu werden!
»Ich habe eine kranke Mutter, William«, erläuterte Miss Frost. »Mein
Vater starb in dem Jahr, als ich auf Favorite River anfing; wäre er nicht
vorher gestorben, hätte es ihn wahrscheinlich umgebracht, dass ich eine Frau
wurde. Aber meine Mutter ist seit einiger Zeit nicht gesund. Wegen ihrer
gesundheitlichen Probleme hätte ich das College fast nicht beendet. Sie ist
schon so lange krank, dass sie geheilt werden könnte und trotzdem nicht wüsste,
ob sie gesund ist. Sie ist krank im Kopf, William; sie merkt nicht mal, dass ich eine Frau bin, oder vielleicht erinnert sie sich nicht mal,
dass ihr kleiner Junge jemals ein Mann war. Bestimmt
weiß sie nicht mal mehr, dass sie jemals einen Jungen hatte.«
»Oh!«
»Mein Dad hat früher mal für deinen Grandpa Harry gearbeitet. Harry
wusste, dass ich mich um meine Mom kümmerte. Nur deshalb musste ich nach First
Sister zurückkehren – egal, ob die Favorite River Academy mich haben wollte
oder nicht.«
»Das tut mir leid«, sagte ich.
»Ach, halb so schlimm«, erwiderte Miss Frost, ganz die
Schauspielerin. »Kleinstädte mögen dich hassen, aber sie müssen dich behalten –
sie können dich nicht wegschicken. Und ich habe dich kennengelernt, William. Wer weiß? Vielleicht wird man mich als die verrückte
Bibliothekarin in Erinnerung behalten, die eigentlich ein Mann war und dich als
Schriftsteller auf den Weg gebracht hat. Du hast doch
angefangen zu schreiben, oder?«, fragte sie mich.
[343] Ich fand Miss Frosts bisherige Lebensgeschichte außerordentlich
bedrückend. Während ich durch den perlgrauen Unterrock ihren Penis berührte,
dachte ich an Giovannis Zimmer, das in Elaines BH gewickelt unter meinem Kopfkissen lag, und sagte:
»Den Roman von James Baldwin fand ich großartig . Ich
habe ihn nicht zurückgebracht, weil ich ihn Tom Atkins leihen wollte. Wir beide
haben darüber gesprochen – ich glaube, ihm würde Giovannis
Zimmer auch gefallen. Ist es in Ordnung, wenn ich ihm das Buch leihe?«
»Ist Giovannis Zimmer in deiner
Büchertasche, William?«, fragte mich Miss Frost plötzlich. »Wo ist das Buch
jetzt gerade?«
»Es liegt zu Hause«, antwortete ich ihr. Auf einmal traute ich mich
nicht zu sagen, dass das Buch unter meinem Kopfkissen lag – und schon gar
nicht, dass es Kontakt zu Elaines perlgrauem gefütterten BH hatte.
»Du darfst den Roman nicht zu Hause liegenlassen«, sagte Miss Frost.
»Natürlich kannst du ihn Tom leihen, aber sag Tom, er darf ihn nicht seinem
Mitbewohner zeigen.«
»Ich weiß nicht, wer Atkins’ Mitbewohner ist«, erwiderte ich.
»Wer Toms Mitbewohner ist, spielt keine Rolle – der Mitbewohner soll
nur den Roman nicht zu sehen bekommen. Ich habe dir gesagt, weder deine Mutter
noch Richard Abbott dürfen ihn sehen. An deiner Stelle würde ich nicht mal
deinen Grandpa Harry wissen lassen, dass du ihn hast.«
»Grandpa weiß, dass ich für Kittredge schwärme«, sagte ich zu Miss
Frost. »Keiner außer Ihnen weiß, dass ich für Sie schwärme.«
[344] »Hoffentlich stimmt
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