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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Musikgebäudes wegbewegen, und was anstelle eines Gesprächs herhalten
musste, war dauerhaft ins Stocken geraten.
    »Hast du bei deinen Ausspracheproblemen schon [327]  irgendwelche
Durchbrüche erzielt?«, fragte mich Atkins verlegen.
    »Im Grunde nur einen«, antwortete ich ihm. »Anscheinend habe ich das
Wort Schatten bewältigt.«
    »Schön für dich«, sagte Atkins ehrlich erfreut. »Ich habe keins von
meinen bewältigt – jedenfalls seit einer ganzen Weile nicht.«
    »Tut mir leid«, sagte ich ihm. »Ist bestimmt schwer, mit einem
dieser Wörter Probleme zu haben, die die ganze Zeit auftauchen. Wie das Wort Zeit. «
    »Allerdings«, gab Atkins zu. »Welches macht denn dir besondere Schwierigkeiten?«
    »Das Wort für deinen Dingsbums «, sagte ich
ihm. »Du weißt schon – Dödel, Schniepel, Pimmel, Flöte, Zipfel, Pillermann,
Schniedelwutz«, sagte ich.
    »Du kannst nicht Penis sagen?«, flüsterte
Atkins.
    »Das klingt bei mir wie Penith «,
antwortete ich ihm.
    »Na, immerhin kann man das halbwegs verstehen«, befand Atkins
aufmunternd.
    »Hast du eins, das dir noch schwerer fällt als Zeit ?«,
fragte ich ihn.
    »Das weibliche Pendant zu deinem Penis«, antwortete Atkins. »Das
krieg ich nicht mal ansatzweise raus – schon der Versuch macht mich fertig.«
    »Du meinst ›Vagina‹, Tom?«
    Atkins nickte heftig; ich dachte schon, der arme Tom würde jeden
Moment losheulen, so wie er pausenlos mit dem Kopf nickte, doch Mrs. Hadley
verhinderte – vorerst –, dass er in Tränen ausbrach.
    »Tom Atkins!«, rief Martha Hadley die Treppe hinunter. [328]  »Ich kann
deine Stimme hören, aber du hast dich verspätet ! Ich warte schon auf dich!«
    Ohne nachzudenken, lief Atkins die Treppe hinauf. Dabei sah er mich
über die Schulter freundlich, aber irgendwie verlegen an. Während er weiter die
Treppe hinaufrannte, hörte ich deutlich, wie er Mrs. Hadley zurief: »Tut mir
leid! Ich komme! Ich hab nicht auf die Zeit geachtet!« Sowohl Martha Hadley als
auch ich hörten ihn klar und deutlich.
    »Klingt für mich nach einem Durchbruch, Tom!«, schrie ich die Treppe
hoch.
    »Was hast du gerade gesagt, Tom Atkins? Wiederhol es!«, hörte ich
Mrs. Hadley zu ihm hinunterrufen.
    »Zeit! Zeit! Zeit!«, hörte ich Atkins schreien, ehe die Tränen seine
Rufe erstickten.
    »Nun wein doch nicht, du dummer Junge!«,
sagte Mrs. Hadley. »Tom, Tom – hör bitte auf zu weinen. Du solltest glücklich sein!« Doch ich hörte Atkins immer
weiterschluchzen; wenn die Tränen erst einmal flossen, konnte nichts sie mehr
anhalten. (Dieses Gefühl kannte ich.)
    »Hör mir zu, Tom!«, rief ich die Treppe rauf. »Du hast gerade einen
Lauf, Mann. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um ›Vagina‹ zu probieren. Ich
weiß, du schaffst es! Wenn du ›Zeit‹ bewältigen kannst, vertrau mir – dann ist
›Vagina‹ ganz leicht! Lass mich hören, wie du das Wort Vagina sagst, Tom! Vagina! Vagina! Vagina!«
    »Hüte deine Zunge, Billy«, rief Mrs. Hadley das Treppenhaus zu mir
herunter. Gern hätte ich den armen Tom weiter ermutigt, wollte aber nicht
riskieren, von Martha Hadley – oder einer anderen Lehrkraft im Musikgebäude –
verwarnt zu werden.
    [329]  Ich hatte eine Verabredung – mehr als eine Verabredung! – mit
Miss Frost, daher wiederholte ich das Wort Vagina nicht. Ich ging einfach nur weiter die Treppe runter; als ich das Musikgebäude
verließ, hörte ich Tom Atkins immer noch weinen.
    Im Nachhinein ist leicht ersichtlich, wie ich mich verriet.
Normalerweise pflegte ich mich weder zu duschen noch zu rasieren, ehe ich
abends in die Bibliothek ging. Auch wenn ich weder Richard noch meiner Mutter
jemals sagte, in welche Bibliothek ich ging, hätte ich wohl so klug sein
müssen, Giovannis Zimmer mitzunehmen. (Ich ließ den
Roman samt Elaines BH unter meinem Kopfkissen
liegen, und zwar, weil ich das Buch nicht in der Bücherei zurückgeben wollte.
Ich wollte es Tom Atkins borgen, aber nicht ohne vorher Miss Frost zu fragen,
ob sie das für eine gute Idee hielt.)
    » Nett siehst du aus, Billy«, bemerkte
meine Mutter, als ich unsere Wohnung auf dem Campus verließ. Sie machte mir
fast nie ein Kompliment über mein Aussehen; zwar hatte sie mehr als einmal
erklärt, ich würde » später mal gut aussehen«, hatte
das aber in den letzten Jahren nicht wiederholt. Offenbar sah ich in den Augen
meiner Mom inzwischen zu gut aus, denn wie sie das
Wort nett betonte, klang nicht sehr nett.
    »Gehst du in die Bibliothek, Bill?«, fragte mich

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