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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Richard.
    »Genau«, sagte ich. Es war dumm von mir, meine Deutschhausaufgaben
nicht mitzunehmen. Wegen Kittredge hatte ich fast immer meinen Goethe und
meinen Rilke dabei. Doch an diesem Abend war meine Tasche fast [330]  leer. Ich
hatte nur eins meiner Notizbücher dabei – mehr nicht.
    »Für die Bibliothek siehst du zu nett aus,
Billy«, sagte meine Mom.
    »Ich kann ja wohl nicht wie Lears Schatten rumlaufen, oder?«, fragte ich keck. Ich wollte nur angeben, war aber, wie sich
herausstellte, schlecht beraten, vor meiner Mutter und Richard Abbott mein
neues Selbstbewusstsein zu demonstrieren.
    Nur ein wenig später am selben Abend – ich war noch im Jahrbuchraum
der Academy-Bibliothek – tauchte Kittredge auf der Suche nach mir in Bancroft
Hall auf. Meine Mutter öffnete ihm, doch als sie Kittredge sah, bat sie ihn
bestimmt nicht herein. »Richard!«, rief sie zweifellos. »Jacques Kittredge ist
da!«
    »Ich hatte gehofft, mit dem Deutschexperten ein paar Worte wechseln
zu können«, sagte Kittredge charmant.
    »Richard!«, rief daraufhin meine Mom erneut.
    »Bin schon unterwegs, Jewel!«, mochte ihr Richard geantwortet haben.
Es war eine kleine Wohnung; meine Mutter wollte zwar nicht mit Kittredge reden,
hörte aber bestimmt jedes Wort mit, das zwischen ihm und Richard gewechselt
wurde.
    »Wenn du den Deutschexperten suchst, Jacques, der ist leider in die
Bibliothek gegangen«, teilte Richard Kittredge mit.
    »In welche Bibliothek?«, fragte Kittredge.
»Er frequentiert zwei Bibliotheken, dieser Deutschexperte. Neulich trieb er
sich in der Stadtbücherei herum – Sie wissen schon, in der öffentlichen Bibliothek.«
    [331]  »Was hat Billy in der öffentlichen Bibliothek verloren, Richard?«, hatte meine Mom vielleicht gefragt. (Jedenfalls
hatte sie es gedacht; bestimmt hatte sie Richard die Frage später gestellt,
wenn nicht schon, als Kittredge noch da war.)
    »Vermutlich berät Miss Frost ihn weiterhin in Lektürefragen«, mochte
Richard Abbott geantwortet haben – entweder gleich oder später.
    »Ich muss dann mal los«, sagte Kittredge wahrscheinlich. »Richten
Sie dem Deutschexperten nur aus, dass ich bei dem Test ziemlich gut war – meine
beste Note überhaupt. Sagen Sie ihm, mit ›Die Leidenschaft bringt Leiden‹ lag
er goldrichtig. Sagen Sie ihm, sogar das mit dem ›schrecklichen Engel‹ hat er
richtig vermutet – da hab ich voll ins Schwarze getroffen«, sagte Kittredge zu
Richard.
    »Ich werd’s ausrichten«, mochte Richard zu Kittredge gesagt haben.
»Du hast ›Die Leidenschaft bringt Leiden‹ hingekriegt – und den ›schrecklichen Engel‹
hast du auch geritzt. Ich sag’s ihm, versprochen.«
    Inzwischen hatte meine Mutter das Buch aus der Bücherei in meinem
Zimmer bestimmt schon gefunden. Sie wusste, dass ich Elaines BH unter dem Kopfkissen aufbewahrte; da sah sie
garantiert zuerst nach.
    Richard Abbott war belesen; vielleicht hatte er schon gehört, wovon Giovannis Zimmer handelte. Natürlich lagen die Autoren, die
wir in Deutsch durchnahmen – die unvermeidlichen Goethe und Rilke – in meinem
Zimmer herum. Doch was immer mich auch beschäftigte, egal, in
welcher Bibliothek, es hatte ganz offenbar nichts mit meinen
Deutschhausaufgaben zu tun. Und zwischen den Seiten [332]  von Mr. Baldwins
exzellentem Roman lagen meine handgeschriebenen Notizen – darunter Zitate aus Giovannis Zimmer. Natürlich gehörte »Gestank der Liebe« zu
meinem Geschreibsel, und der Satz, der mir immer einfiel, wenn ich an Kittredge
dachte: »Während alles in mir nein schrie, seufzte mein wahres Ich ja.«
    Kittredge hatte Bancroft Hall wohl schon längst verlassen, als
Richard und meine Mom ihre Schlüsse zogen und die anderen verständigten.
Vielleicht nicht Mrs. Hadley – jedenfalls nicht gleich –, aber bestimmt meine
taktlose Tante Muriel, meinen oft geschmähten Onkel Bob und natürlich Nana
Victoria und First Sisters berühmtesten Frauendarsteller, Grandpa Harry. Sie
alle zogen gewiss ihre Schlüsse und entwarfen die Ansätze eines Plans, während
ich noch dabei war, den Raum mit den alten Jahrbüchern zu verlassen. Als ihr
Angriffsplan schließlich konkrete Formen annahm, war ich bestimmt schon
unterwegs zur Stadtbücherei von First Sister, wo ich, kurz bevor sie schloss,
eintraf.
    Mir ging so allerhand über Miss Frost durch den Kopf –,
besonders nachdem ich die Eule des Jahrgangs 1935
durchgesehen hatte. Ich bemühte mich, nicht bei dem Herzensbrecher aus der
Ringermannschaft des

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