Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
Atkins erfuhr ich in jenem Dezember 1960, dass Kittredge
überall herumerzählte, ich wäre »ein Sexheld«.
    »Das hat Kittredge dir gesagt, Tom?«, fragte ich.
    »Er sagt es jedem«, erfuhr ich von Atkins.
    »Wer weiß schon, was Kittredge wirklich denkt?«, sagte ich. (Ich
hatte immer noch daran zu knabbern, wie Kittredge mir das Wort widerlich an den Kopf geknallt hatte, als ich am wenigsten
damit gerechnet hatte.)
    In jenem Dezember hatte das Ringerteam keine Turniere [385]  daheim –
die ersten Wettkämpfe fanden in anderen Schulen statt –, aber Atkins hatte mir
gegenüber sein Interesse bekundet, sich die Heimwettkämpfe mit mir zusammen
anzusehen. Davor hatte ich den Vorsatz gefasst, mir keine Ringerturniere mehr
anzusehen; einerseits, weil Elaine nicht mehr da war, um mit mir zusammen
hinzugehen, andererseits, weil ich mir einbildete, Kittredge so aus dem Weg
gehen zu können. Aber als Atkins sein Interesse äußerte, fachte er meins wieder
an.
    Dann, Weihnachten 1960, kam Elaine nach Hause; die
Favorite-River-Wohnheime standen über die Weihnachtsferien leer, und Elaine und
ich hatten das verlassene Schulgelände größtenteils für uns allein. Ich
erzählte Elaine absolut alles über Miss Frost; meine Sitzung bei Dr. Harlow
hatte mir genügend Übung im Geschichtenerzählen verschafft, und ich wollte
unbedingt all die Jahre wettmachen, in denen ich meiner lieben Freundin Elaine
so vieles verschwiegen hatte. Sie war eine gute Zuhörerin und versuchte nicht
einmal, mir Vorwürfe zu machen, weil ich ihr nicht früher von meinen diversen
erotischen Obsessionen erzählt hatte.
    Wir konnten auch offen über Kittredge reden, und ich erzählte Elaine
sogar, dass ich »früher« für ihre Mutter geschwärmt hatte. (Dass Mrs. Hadley
mich nicht mehr auf diese Art anzog, machte es mir einfacher, es Elaine zu
sagen.)
    Elaine war eine so gute Freundin, dass sie sich doch tatsächlich als
Vermittlerin anbot – für den Fall, dass ich mich noch einmal mit Miss Frost
treffen wollte. Natürlich dachte ich immerzu an so ein Treffen, aber Miss Frost
hatte mir [386]  ihre Absicht, sich endgültig von mir zu verabschieden,
unmissverständlich klargemacht – ihr »Lebwohl, auf Wiedersehen« hatte äußerst
bestimmt geklungen. Deshalb konnte ich mir auch nicht vorstellen, dass sie mit
ihrem »Lebwohl, auf Wiedersehen« eine Hintertür offen lassen wollte.
    So dankbar ich Elaine für ihre Bereitschaft war, für uns die Botin
zu spielen, machte ich mir doch keine Sekunde lang vor, dass Miss Frost sich je
wieder mit mir einlassen würde. »Bitte versteh doch«, sagte ich zu Elaine. »Ich
glaube, Miss Frost ist es sehr ernst damit, mich beschützen zu wollen.«
    »Was erste Male angeht, Bill, hast du es offensichtlich ziemlich gut
getroffen«, verriet mir Elaine.
    »Bis auf die Einmischung meiner ganzen Scheiß- Familie !«,
rief ich.
    »Das ist allerdings sehr seltsam«, sagte Elaine. »Es kann nicht
sein, dass sie sich alle so vor Miss Frost fürchten. Sie haben bestimmt nicht
geglaubt, Miss Frost könnte dir je etwas antun.«
    »Wie meinst du das?«, fragte ich.
    »Sie fürchten sich vor irgendwas, das mit dir zu tun hat, Billy«, erklärte sie.
    »Dass ich homosexuell bin, oder bisexuell – meinst du das?«, fragte
ich. »Weil ich nämlich glaube, dass sie sich das schon zusammenreimen, oder
mich wenigstens im Verdacht haben.«
    »Sie fürchten sich vor etwas, das du selbst noch nicht weißt,
Billy«, sagte Elaine.
    »Ich hab’s so satt, dass alle mich beschützen wollen!«, rief ich.
    [387]  »Das könnte durchaus Miss Frosts Motiv sein, Billy«, stellte
Elaine fest. »Ob es aber auch bei deiner ganzen Scheiß- Familie, wie du sagst, dahintersteckt, da bin ich mir nicht so sicher.«
    In diesen Weihnachtsferien kam auch meine ziemlich derbe Cousine
Gerry vom College nach Hause. Bei Gerry verwende ich das Wörtchen derb mit liebevollem Unterton. Bitte tun Sie Gerry nicht
als übertrieben aggressive Lesbe ab, die ihre Eltern und alle Heteros hasste;
Jungen hatte sie zwar immer verachtet, aber ich bildete mir törichterweise ein,
mich könnte sie ein klein wenig mögen, weil ich wusste, dass sie von meiner
skandalösen Beziehung mit Miss Frost gehört haben musste. Doch Gerry sollte
jedenfalls die nächsten paar Jahre schwule oder bisexuelle Jungs kein bisschen
lieber mögen als heterosexuelle.
    Heutzutage bekomme ich von meinen Freunden zu hören, unsere
Gesellschaft begegne lesbischen und bisexuellen Frauen toleranter

Weitere Kostenlose Bücher