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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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»praktizierten« oder nicht,
ob sie homosexuell waren oder nicht? Uns war nur aufgefallen, dass sie
alleinstehend waren und sich besonders sorgfältig kleideten, so wie sie auch
etepetete aßen und sprachen – weshalb wir sie für unnatürlich unmännlich
hielten.
    » Schüler dürfen in der Tat kein Jahrbuch
entleihen, Billy – Lehrer schon«, sagte der
Academy-Bibliothekar steif; er hieß Mr. Lockley.
    » Lehrer schon«, wiederholte ich.
    »Jawohl«, bestätigte Mr. Lockley; er blätterte in ein paar
Karteikarten. »Mr. Fremont hat die 1940er Eule ausgeliehen, Billy.«
    »Oh!«
    Mr. Fremont – Robert Fremont, Abschlussjahrgang 1935, Klassenkamerad
von Miss Frost – war natürlich mein Onkel Bob. Aber als ich Bob fragte, ob er
die 1940er Eule schon durchhätte, weil ich sie mir
gern ansehen würde, reagierte der gute alte lässige Bob gar nicht mehr so
lässig.
    [394]  »Mit ziemlicher Sicherheit hab ich das Jahrbuch in die Bücherei
zurückgebracht, Billy«, sagte mein Onkel; er war im Grunde genommen ein guter
Kerl, wenn auch ein schlechter Lügner. So geradeheraus er gewöhnlich auch war,
wusste ich doch, dass er die 1940er Eule aus
irgendeinem schleierhaften Grund nicht herausrücken wollte.
    »Mr. Lockley glaubt, dass du sie noch hast, Onkel Bob«, sagte ich.
    »Dann werd ich wohl danach suchen müssen, Billy, aber ich könnte
schwören, dass ich sie der Bibliothek zurückgegeben habe«, meinte Bob.
    »Wozu hast du sie gebraucht?«, fragte ich.
    »Ein Ehemaliger dieses Jahrgangs ist kürzlich verstorben«,
antwortete Onkel Bob. »Ich wollte seiner Familie ein paar nette Worte über ihn
schreiben.«
    »Oh!«
    Der arme Onkel Bob würde nie Schriftsteller werden, so viel war mir
klar; er konnte sich nicht mal selber mit einer Lügengeschichte aus der Patsche
helfen.
    »Wie hieß er?«, fragte ich.
    »Wie hieß wer, Billy?«, kam es von Bob mit
gequetschter Stimme zurück.
    »Der Verstorbene, Onkel Bob.«
    »Mensch, Billy – jetzt fällt mir doch glatt sein Name nicht ein!«
    »Oh!«
    »Mehr Scheiß-Geheimnisse«, sagte Elaine, als ich ihr die Sache
berichtete. »Bitte Gerry, das Jahrbuch zu suchen und dir zu geben. Gerry kann
ihre Eltern nicht leiden – sie wird dir den Gefallen tun.«
    [395]  »Ich fürchte, Gerry kann mich auch nicht leiden«, verriet ich
Elaine.
    »Gerry kann ihre Eltern noch viel weniger leiden«, sagte Elaine.
    Wir standen vor der Tür zu Kittredges Zimmer in Tilley, und ich
sperrte mit dem Generalschlüssel auf, den Onkel Bob mir gegeben hatte. Auf den
ersten Blick fiel uns als einzig »Untypisches« auf, wie aufgeräumt es war, aber
weder Elaine noch ich waren von Kittredges Ordnungsliebe überrascht.
    In dem einzigen Regal standen sehr wenig Bücher; es gab reichlich
Platz für mehr. Auf dem einen Schreibtisch lag kaum etwas herum; über dem einen
Stuhl hingen keine Kleider. Auf der einsamen Kommode standen nur ein paar
gerahmte Fotos, und im Wandschrank, typischerweise ohne Tür – oder Vorhang –
waren Kittredges wohlbekannte (und teuer aussehende) Klamotten zu sehen. Nicht
einmal auf dem für sich stehenden Einzelbett lagen irgendwelche Klamotten
herum, und es war ordentlich gemacht – Laken, Bettdecke und Kopfkissenbezug
knitterfrei glattgestrichen.
    »Mein Gott«, entfuhr es Elaine plötzlich. »Wie hat der Mistkerl ein Einzelzimmer ergattert?«
    Es war tatsächlich ein Einzelzimmer; Kittredge hatte keinen
Zimmergenossen – das war das »Untypische« daran. Elaine und ich überlegten, ob
dieses Zimmer wohl Bestandteil von Mrs. Kittredges Abmachung mit der Academy
war, als sie Mr. und Mrs. Hadley versprochen hatte, mit Elaine nach Europa zu
reisen und dem gestrauchelten Mädchen eine sichere Abtreibung zu verschaffen.
Denkbar war auch, dass Kittredge als Zimmergenosse zu schikanös [396]  und
ausfallend geworden war; womöglich hatte niemand mit ihm das Zimmer teilen
wollen, doch das kam Elaine und auch mir eher unwahrscheinlich vor. An der
Favorite River Academy hätte es einem zu höherem Ansehen verholfen, mit
Kittredge das Zimmer zu teilen; selbst wenn er einen ständig schikanierte,
würde man nicht auf die Ehre verzichten wollen. Das Einzelzimmer in Kombination
mit Kittredges offensichtlich zwanghafter Ordnungsliebe roch nach Privilegien.
Kittredge triefte vor Privilegiertheit, so als habe er es fertiggebracht, für
sich (bereits in utero ) eine Vorzugsbehandlung
herauszuschlagen.
    Elaine regte am meisten auf, dass sich in dem Zimmer auch nicht der
geringste Hinweis

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