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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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als schwulen
und bisexuellen Männern. In unserer Familie schien Gerrys Lesbischsein
jedenfalls keine größere Aufregung zu verursachen, besonders verglichen mit dem
Aufstand, den alle um meine Beziehung zu Miss Frost veranstalteten – ganz zu
schweigen vom Entsetzen meiner Mutter über die Entwicklung meiner sexuellen
Orientierung. Ja, ich weiß, es stimmt, dass viele Leute lesbische und
bisexuelle Frauen anders behandeln als schwule und
bisexuelle Männer, aber Gerry wurde von unserer Familie weniger akzeptiert als vielmehr ignoriert.
    Onkel Bob liebte Gerry, war aber ein Feigling, der seine Tochter
teilweise dafür liebte, dass sie mutiger war als er. [388]  Wahrscheinlich legte
Gerry sich ihr rüpelhaftes Betragen bewusst zu, nicht nur, um sich hinter
diesem Schutzwall zu verschanzen, sondern weil sie unsere Familie mit ihrer
Aggressivität und »Derbheit« zwang, sie zu beachten.
    Ich hatte Gerry immer gemocht, behielt meine Zuneigung aber für
mich. Ich wünschte, ich hätte ihr gesagt, dass ich
sie mochte – viel früher, meine ich.
    Im Lauf der Jahre sollten wir uns näherkommen; heute stehen wir uns
recht nahe. Ich mag Gerry wirklich gern – na gut, auf verquere Art –, aber als
junge Frau war Gerry nicht gerade liebenswürdig. Ich meine ja nur, dass sie
sich absichtlich unliebenswürdig benahm. Elaine
verabscheute Gerry und sollte sie nie mögen – nicht mal ein bisschen.
    An diesen Weihnachtsfeiertagen gingen Elaine und ich unseren
üblichen separaten Beschäftigungen im Jahrbuchraum der Academy-Bibliothek nach.
Die Bibliothek hatte über die Weihnachtsferien geöffnet – nur nicht am ersten
Weihnachtsfeiertag. Viele Lehrer arbeiteten gern dort, denn um die
Weihnachtstage herum besuchten haufenweise Aufnahmekandidaten mit ihren Eltern
die Favorite River Academy. Seit drei Jahren hatte ich in den Sommerferien als
Fremdenführer gejobbt und interessierten Schülern und ihren Eltern meine
scheußliche Schule gezeigt. In den Weihnachtsferien bekam ich auch einen
Teilzeitjob als Führer; das war für einen Lehrersohn nichts Ungewöhnliches.
Onkel Bob, der für die Auswahl der Schüler verantwortlich zeichnete, war unser
viel zu toleranter Chef.
    Elaine und ich waren im Jahrbuchraum, als meine Cousine Gerry uns
aufstöberte. »Ich hab gehört, du bist schwul«, sagte Gerry zu mir, ohne Elaine
zu beachten.
    [389]  »Kann schon sein«, sagte ich, »aber manche Frauen finde ich auch
attraktiv.«
    »Davon will ich nichts hören«, kanzelte Gerry mich ab. »Mir steckt
niemand was in den Arsch oder sonst wohin.«
    »Woher willst du das wissen, wenn du es noch nicht ausprobiert
hast?«, sagte Elaine. »Wer weiß, vielleicht gefällt’s dir ja, Gerry.«
    »Wie ich sehe, bist du nicht schwanger«, sagte Gerry zu ihr, »außer
du bist doch schon wieder schwanger, Elaine, und man sieht es bloß noch nicht.«
    »Hast du eine Freundin?«, fragte Elaine.
    »Die könnte dich zu Brei schlagen«, sagte Gerry. »Dich
wahrscheinlich auch«, informierte sie mich.
    Ich war auch deshalb nachsichtig mit Gerry, weil ich wusste, dass
Muriel ihre Mutter war; das konnte kein leichtes Los sein, schon gar nicht für
eine Lesbe. Weniger Nachsicht hatte ich dafür, wie ruppig sie mit ihrem Vater
umsprang, denn Onkel Bob hatte ich immer gemocht. Aber Elaine war kein bisschen
nachsichtig mit Gerry. Zwischen ihnen musste mal irgendetwas vorgefallen sein;
vielleicht hatte Gerry sie angebaggert oder, durchaus möglich, Elaine etwas
Gemeines gesagt oder geschrieben, als diese von Kittredge schwanger war.
    »Mein Dad sucht dich, Bill«, sagte Gerry. »Er will einer Familie die
Schule zeigen. Für mich sieht der Kleine nach Bettnässer aus, aber vielleicht
ist er ja schwul, und ihr könnt euch in einem leeren Wohnheimzimmer gegenseitig
einen blasen.«
    »Lieber Himmel, bist du ordinär!«, sagte Elaine zu Gerry. »Und ich
war so naiv, mir vorzustellen, das College [390]  hätte dir Kultur beigebracht –
wenigstens ein bisschen. Aber was auch immer du deinem Highschool-Besuch in
Ezra Falls an geschmackloser Kultur abgewinnen konntest, wird wohl die einzige
Kultur sein, die du überhaupt aufnehmen kannst.«
    »Und die Kultur, die du mitbekommen hast, hat dir wohl nicht
beigebracht, nicht die Beine breit zu machen,
Elaine«, konterte Gerry. »Warum bittest du nicht meinen Dad, dir den
Generalschlüssel für Tilley zu geben, wenn du den Bettnässer und seine Eltern
rumführst?«, fragte Gerry mich. »Dann kannst du mit Elaine das Zimmer

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