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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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darauf fand, dass Kittredge sie je gekannt hatte; vielleicht
hatte sie erwartet, ein Foto von sich zu sehen. (Sie gestand mir, dass sie ihm
mehrere geschenkt hatte.) Ich fragte sie nicht, ob sie ihm einen ihrer BH s geschenkt hatte, aber nur, weil ich selber
vorhatte, sie um noch einen zu bitten.
    Es gab ein paar Fotos aus der Schulzeitung und Jahrbuchfotos von
Kittredge beim Ringen. Keine Fotos von Freundinnen (oder Exfreundinnen). Keine
Kinderfotos von Kittredge; falls er je einen Hund hatte, auch keine Fotos von
dem Hund. Keine Fotos von irgendwem, der sein Vater sein könnte. Das einzige
Foto von Mrs. Kittredge war bei dem einen Mal aufgenommen worden, als sie nach
Favorite River gekommen war, um ihren Sohn ringen zu sehen. Es musste nach dem
Wettkampf entstanden sein; Elaine und ich hatten im Publikum gesessen – das
einzige Mal, dass ich Mrs. Kittredge gesehen hatte. Wir konnten uns nicht erinnern,
dass irgendwer Kittredge und seine Mutter während [397]  des Turniers fotografiert
hätte, doch so war es offensichtlich gewesen.
    Elaine und mir fiel gleichzeitig auf, dass jemand – es konnte nur
Kittredge gewesen sein – das Gesicht von Mrs. Kittredge ausgeschnitten und auf
Kittredges Körper geklebt hatte. Da stand seine Mutter nun im Ringertrikot
ihres Sohnes. Und dessen schön geschnittenes Gesicht war auf den attraktiven,
elegant und geschmackvoll gekleideten Körper seiner Mutter gepappt. Das Foto
war komisch, aber Elaine und ich lachten nicht.
    Es war nämlich so, dass sich Kittredges Gesicht auf dem Körper einer
Frau und mit den Kleidern einer Frau gut machte und das Gesicht von Mrs.
Kittredge hervorragend zum Ringerkörper ihres Sohnes passte (im Ringertrikot).
    »Es könnte ja sein«, sagte ich nicht wirklich überzeugt zu Elaine,
»dass Mrs. Kittredge die Gesichter auf dem Foto vertauscht hat.«
    »Nein«, erwiderte Elaine. »Das kann nur Kittredge gewesen sein.
Diese Frau hat weder Phantasie noch Sinn für Humor.«
    »Wie du meinst«, antwortete ich meiner lieben Freundin. (Sie wissen
ja, ich zweifelte Elaines überlegenes Wissen zum Thema Mrs. Kittredge nie an.
Warum auch?)
    »Du solltest allmählich mal Gerry bearbeiten und dieses Jahrbuch
von 1940 finden, Billy«, riet mir Elaine.
    Daran hielt ich mich während unseres Familienessens am ersten
Weihnachtsfeiertag, bei dem Tante Muriel, Onkel Bob und Gerry mit mir, meiner
Mutter und Richard Abbott in Grandpa Harrys Haus an der River Street [398]  zusammensaßen.
Nana Victoria trieb immer viel Aufwand um die in ihren Augen lebenswichtige und
unerlässliche »Tradition« des Weihnachtsessens.
    Zu unserer Familientradition gehörte auch, dass die Borkmans zum
Essen eingeladen wurden. Soweit ich mich erinnern kann, war es einer der
wenigen Tage im Jahr, an denen ich Mrs. Borkman zu Gesicht bekam. Nana Victoria
bestand darauf, dass wir sie alle mit »Mrs. Borkman« anredeten; den Vornamen
erfuhr ich nie. Mit »alle« meine ich nicht nur die Kinder. Seltsamerweise
redeten auch Muriel und meine Mutter Mrs. Borkman so an – und Onkel Bob und
Richard Abbott, wenn sie mit der mutmaßlichen »Ibsen-Frau« sprachen, die Nils
geheiratet hatte. (Zwar hatte sie weder Nils verlassen noch sich erschossen,
aber wir gingen davon aus, dass Nils Borkman nie im Leben eine andere als eine Ibsen-Frau geheiratet hätte, weshalb es uns
nicht überrascht hätte zu erfahren, dass Mrs. Borkman etwas Schreckliches getan
hatte.)
    Die Kinderlosigkeit der Borkmans deuteten meine Tante Muriel und
Nana Victoria als Hinweis darauf, dass in ihrer Ehe etwas fehlte (oder
tatsächlich schrecklich war).
    »Gottverdammte Hurenkacke«, sagte Gerry an jenem Weihnachtstag 1960
zu mir. »Es kann doch schließlich sein, dass Nils und seine Frau zu deprimiert
sind, um Kinder zu kriegen. Die Aussicht auf Kinder macht sogar mich so was von
scheißdeprimiert, dabei bin ich weder selbstmordgefährdet noch Norwegerin!«
    In dieser besinnlichen Stimmung beschloss ich, Gerry gegenüber das
geheimnisvolle Thema der fehlenden 1940er Eule anzusprechen, die Onkel Bob – nach Mr. Lockleys [399]  Aufzeichnungen – aus der
Academy-Bibliothek entliehen, aber nie zurückgebracht hatte.
    »Keine Ahnung, was dein Dad mit diesem Jahrbuch macht«, sagte ich
ihr, »aber ich will es haben.«
    »Was steht da drin?«, fragte sie mich.
    »Das eben wollen mir einige Mitglieder unserer ehrenwerten Familie
vorenthalten«, sagte ich.
    »Mach dir nicht in die Hose. Ich find das Scheiß-Jahrbuch schon –
ich bin

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