In einer Person
alles verschwiegen hast.«
»Ich hab gedacht, du weißt es,
Arschloch!«, schrie Gerry mich an. »Scheiße, Billy – wie hast du es nicht wissen können? Es ist doch so was von offensichtlich ! Wie kannst du so schwul sein, wie du bist,
und es nicht wissen?«
»Das ist gemein, Gerry!«, rief Elaine, aber Gerry war schon weg und
hatte die Tür zum Wohnheimflur sperrangelweit offen gelassen. Das störte Elaine
und mich nicht weiter; wir gingen kurz nach Gerry, weil wir zur
Academy-Bibliothek wollten, solange sie noch offen hatte. Und zwar, um alle
Fotos von William Francis Dean zu suchen, die wir in den früheren Jahrbüchern
finden konnten, in denen ich ihn übersehen hatte.
Jetzt wusste ich ja, wo ich nachsehen musste: Franny Dean musste das
hübscheste Mädchen auf den Fotos des Theaterclubs in der 1937er, 1938er und
1939er Eule sein; er musste der femininste Junge auf
den Fotos der Ringermannschaft sein, auf denen er nicht im Ringertrikot zu
sehen war, sondern in Jackett und Krawatte, wie es die damalige Kleiderordnung
für Mannschaftsbetreuer wollte.
Bevor Elaine und ich zum alten Jahrbuchraum in der
Academy-Bibliothek gingen, nahmen wir die 1940er Eule mit in den vierten Stock von Bancroft Hall und versteckten sie in Elaines
Zimmer. Ihre Eltern durchsuchten ihre Sachen nicht, erzählte sie mir. Elaine
hatte sie nur ein einziges Mal beim Schnüffeln ertappt, und das war kurz nach
ihrer Rückkehr von der Europareise mit Mrs. Kittredge gewesen. Elaine hatte sie
im Verdacht, dass sie herausfinden wollten, ob sie mit noch irgendjemandem
schlief.
[406] Daraufhin hatte Elaine überall in ihrem Zimmer Kondome verteilt.
Natürlich hatte sie sich die von Mrs. Kittredge beschafft. Vielleicht deuteten
Mr. und Mrs. Hadley die Kondome als Zeichen dafür, dass ihre Tochter mit einem
ganzen Heer von Jungen schlief; andererseits wusste ich, dass Mrs. Hadley nicht
so dumm war. Martha Hadley erkannte wahrscheinlich, was die vielen Kondome zu
bedeuten hatten: Bleibt gefälligst aus meinem Zimmer! (Woran sich Mr. und Mrs.
Hadley nach diesem einen Mal auch hielten.)
Wenn schon nicht in meinem, so war die 1940er Eule doch wenigstens in Elaines Zimmer sicher. Elaine und ich konnten uns ganz in
Ruhe sämtliche Fotos des stockschwulen Franny Dean ansehen, wollten uns aber
beide vorher die Bilder des jüngeren William Francis
Dean ansehen. In unseren restlichen Weihnachtsferien wollten wir so viel wie
möglich über den Favorite-River-Jahrgang 1940 in Erfahrung bringen.
Während dieses Weihnachtsessens 1960, als ich Gerry gebeten
hatte, mir die 1940er Eule zu besorgen, nutzte Nils
Borkman die Gunst der Stunde, um sich mir anzuvertrauen.
»Deine Bibliothekarsfreundin – sie verteilen sie zu Unrecht, Bill!«,
flüsterte er mir barsch zu.
» Verurteilen sie – ja«, sagte ich.
»Sie haben geschichtsspezifische Klischees im Kopf!«, ereiferte sich
Borkman.
»Geschlechtsspezifische Klischees?«, hakte ich nach.
» Ja – das hab ich doch gesagt!«,
behauptete der norwegische Theatermann. »Es ist ein Jammer – ich hatte die [407] idealen
Rollen für euch beide«, flüsterte er. »Aber natürlich kann ich Miss Frost nicht
auf die Bühne stellen – diese puritanischen Geschlechterklischees würden sie
steinigen, oder so!«
»Die idealen Rollen in was ?«, fragte ich.
»Er ist der amerikanische Ibsen!«, rief
Nils Borkman. »Er ist der neue Ibsen, aus euren
rückständigen amerikanischen Südstaaten!«
»Und wer bitte?«, fragte ich.
»Tennessee Williams – der wichtigste Dramatiker seit Ibsen«,
erklärte Borkman ehrfurchtsvoll.
»Um welches Stück geht es?«, fragte ich.
»Sommer und Rauch«, antwortete Nils
aufgeregt. »In der verklemmten weiblichen Hauptfigur drin schwelt eine ganz
andere Frau.«
»Ach so«, sagte ich. »Und das wäre also die Rolle für Miss Frost?«
»Miss Frost wäre die Idealbesetzung einer
Alma gewesen!«
»Aber jetzt –«, setzte ich an, doch Borkman ließ mich nicht
ausreden.
»Jetzt habe ich keine andere Wahl – entweder Mrs. Fremont als Alma
oder keine«, murrte er düster. »Mrs. Fremont« kannte ich nur als Tante Muriel.
»Ich glaub, das Verklemmte kriegt Muriel
gut hin«, versuchte ich Nils zu trösten.
»Aber Muriel schwelt nicht, Bill«, flüsterte Nils.
»Nein, das nicht«, stimmte ich ihm zu. »Und welche Rolle war für
mich vorgesehen?«
»Sie gehört immer noch dir, wenn du willst«, sagte Nils. [408] »Es ist
eine kleine Rolle – sie wird dich nicht von deinen
Weitere Kostenlose Bücher