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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Heimlernereien abhalten.«
    »Meinen Hausaufgaben«, verbesserte ich ihn.
    » Ja – hab ich doch gesagt!«, behauptete
der norwegische Theatermann schon wieder. »Du spielst einen Handelsvertreter,
einen jungen. In der letzten Szene des Stücks machst du dich an die Alma-Figur
ran.«
    »Ich mach mich an meine Tante Muriel ran? Wirklich?«
    »Nicht auf der Bühne – keine Sorge!«, rief Borkman. »Das ganze
Rumgeknutsche ist nur in der Einbildung; die ganze gestohlene sexuelle Aktivität
findet später statt, nicht auf der Bühne.«
    Bestimmt meinte Nils Borkman nicht, dass die sexuelle Aktivität
»gestohlen« war – nicht einmal außerhalb der Bühne.
    » Verstohlene sexuelle Aktivität?«, fragte
ich den Regisseur.
    »Ja, aber es gibt keine Knutschereien mit deiner Tante auf der
Bühne!«, versicherte mir Borkman aufgeregt. »Es wäre halt nur so symbolisch gewesen, wenn Alma Miss Frost sein könnte.«
    »Meinen Sie so suggestiv ?«, hakte ich
nach.
    »Suggestiv und symbolisch!«, rief Borkman
aus. »Aber mit Muriel muss es beim Suggestiven bleiben – wenn du verstehst, was
ich meine.«
    »Vielleicht könnte ich erst das Stück lesen – ich weiß ja noch nicht
mal, wie meine Figur heißt«, merkte ich an.
    »Ich hab ein Exemplar für dich«, flüsterte Borkman. Das Taschenbuch
sah ramponiert aus – die Seiten lösten sich vom Einband, als hätte der
aufgeregte Regisseur das [409]  Büchlein zu Tode gelesen. »Du heißt Archie Kramer,
Bill«, sagte Borkman. »Der junge Handelsvertreter soll eine Melone tragen, aber
in deinem Fall können wir drauf vernichten !«
    »Drauf verzichten «, wiederholte ich.
»Womit handle ich als Vertreter?«
    »Schuhe«, eröffnete mir Nils. »Am Schluss gehst du mit Alma in ein
Kasino aus – du hast das Schlusswort in dem Stück, Bill!«
    »Und das wäre?«, fragte ich den Regisseur.
    »›Taxi!‹«, rief Borkman.
    Plötzlich wurde unsere Zweisamkeit gestört. Nils Borkmans Ruf nach
einem Taxi hatte die Weihnachtsgesellschaft aufgeschreckt. Meine Mutter und
Richard Abbott starrten auf die Taschenbuchausgabe von Tennessee Williams’ Sommer und Rauch in meiner Hand, als befürchteten sie, es
könnte sich um eine Fortsetzung von Giovannis Zimmer handeln.
    »Sollen wir dir ein Taxi rufen, Nils?«,
fragte Grandpa Harry seinen alten Freund. »Bist du nicht mit dem eigenen Wagen
da?«
    »Schon gut, Harry – Bill und ich haben nur fachgesimpelt«, erklärte
Nils seinem Kollegen.
    »Es heißt ›gefachsimpelt‹, Nils«, sagte Grandpa Harry.
    »Welche Rolle bekommt Grandpa Harry?«, fragte ich Borkman.
    »Du hast mir noch gar keine Rolle angeboten, Nils«, stellte Grandpa
Harry fest.
    »Aber das hatte ich doch noch vor !«, rief
Borkman. »Dein Großvater wäre eine phantastische Mrs. Windmiller – Almas
Mutter.«
    [410]  »Wenn du dabei bist, bin ich auch dabei«, sagte ich zu Grandpa
Harry. Es sollte die Frühjahrsaufführung der First Sister Players werden, die
Erstinszenierung eines anspruchsvollen Dramas – meine letzte Bühnenrolle vor
meiner Abreise aus First Sister und vor jenem Sommer in Europa mit Tom Atkins.
Meinen Schwanengesang stimmte ich nicht für Richard Abbott und den Theaterclub an,
sondern für Nils Borkman und die First Sister Players – die letzte Gelegenheit
für meine Mutter, mir zu soufflieren.
    Ich war schon von dem Stück angetan, bevor ich es überhaupt gelesen
hatte. Und zwar nach dem ersten Blick auf die Titelseite, wo Tennessee Williams
ein Rilke-Zitat als Motto vorausschickt. »Wer, wenn ich schrie, hörte mich denn
aus der Engel Ordnungen?« Offenbar stieß ich einfach, wo ich auch hinschaute,
auf Rilkes schreckliche Engel. Ich überlegte, ob Kittredge das auf Deutsch
kannte.
    »Schon recht, Bill – wenn du dabei bist, bin ich auch dabei«, sagte
Grandpa Harry; darauf gaben wir uns die Hand.
    Später gelang es mir, Nils unauffällig zu fragen, ob er Tante Muriel
und Richard Abbott schon für die Alma- und John-Rollen verpflichtet hatte. »Keine
Sorge, Bill«, versicherte mir Borkman. »Muriel und Richard hab ich in der
Taschenweste!«
    »In der Westentasche – prima«, antwortete ich dem ausgekochten
Skijäger.
    Als Elaine und ich an jenem Weihnachtsferienabend über den
verlassenen Favorite-River-Campus zur Academy-Bibliothek liefen, sahen wir,
dass sich die Langlaufloipen kreuz und quer über den Campus zogen. (Die [411]  Loipen
und die abgelegeneren Sportplätze der Academy waren durchaus für die
Rotwildjagd geeignet, wenn die Schüler

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