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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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während der Weihnachtsferien zu Hause
waren.)
    Wegen der Ferien rechnete ich nicht unbedingt damit, dass Mr.
Lockley am Ausgabeschalter säße, aber da war er – wie am Abend jedes
gewöhnlichen Arbeitstages auch; vielleicht hatte ja der mutmaßliche
»nichtpraktizierende Homosexuelle« (wie Mr. Lockley hinter seinem Rücken
genannt wurde) kein anderes Leben.
    »Hat nicht geklappt, dass Onkel Bob die 1940er Eule findet, hm?«, fragte ich ihn.
    »Mr. Fremont denkt, er hätte sie zurückgegeben, was jedoch nicht der Fall ist – jedenfalls nicht meines Wissens«,
entgegnete Mr. Lockley pikiert.
    »Ich werd ihn einfach weiter damit nerven«, sagte ich.
    »Mach das ruhig, Billy«, sagte Mr. Lockley streng. »Mr. Fremont ist
kein häufiger Bibliotheksnutzer.«
    »Das hätte mich auch gewundert«, erwiderte ich lächelnd.
    Mr. Lockley lächelte nicht – schon gar nicht in Richtung Elaine. Er
war Junggeselle aus Überzeugung; die nächsten beiden Jahrzehnte, in denen fast
(wenn auch nicht ganz) alle reinen Knabeninternate in New England endlich
koedukativ wurden, sollten ihm sehr gegen den Strich gehen.
    Soweit ich es beurteilen konnte, machte die Koedukation diese
Internate menschlicher; Elaine und ich konnten bezeugen, dass Jungs andere
Jungs besser behandeln, wenn Mädchen in der Nähe sind, und die Mädchen sind in
Anwesenheit von Jungen nicht ganz so gemein zueinander.
    Ich weiß, ich weiß – die Ewiggestrigen behaupten, nach [412]  Geschlechtern
getrennter Schulunterricht wäre leistungsorientierter gewesen, da die Ablenkung
fehlte, und die Koedukation hätte ihren Preis – die »Unverdorbenheit« ginge
verloren, habe ich die Mr. Lockleys der Internatswelt behaupten hören. (Womit
üblicherweise weniger Konzentration auf den »Lehrstoff« gemeint ist.)
    An diesem Abend brachte Mr. Lockley Elaine gegenüber allerhöchstens
ein angedeutetes höfliches Nicken zustande – statt des unaussprechlichen »Guten
Abend, geschwängerte Lehrertochter. Na, wie kommst du jetzt zurecht, du
stinkende kleine Schlampe?«
    Aber Elaine und ich gingen an unsere Arbeit, ohne uns um Mr. Lockley
zu kümmern. Wir waren nur zu zweit in dem Jahrbuchraum – noch einsamer als
sonst in der vollkommen verlassenen Academy-Bibliothek. Die alten Eulen der Jahrgänge 1937, 1938 und 1939 zogen uns magisch
an, und wir staunten nicht schlecht, als wir die verräterischen Seiten
aufschlugen.
    In der Eule von 1937 war William
Francis Dean ein lächelnder zwölfjähriger Junge. Als Betreuer der
Ringermannschaft von 1936/37 wirkte er bezaubernd zartgliedrig, und die
einzigen anderen Bilder von ihm, die Elaine und ich finden konnten, zeigten ihn
als entzückendes junges Mädchen auf den Theaterclub-Fotos dieses längst
vergangenen akademischen Jahres – fünf Jahre vor meiner Geburt.
    Falls Franny Dean die mehrere Jahre ältere Mary Marshall 1937
kennengelernt hatte, gab es darüber in der Eule jenes
Jahrgangs keinerlei Hinweise – und genauso wenig in der 1938er und 1939er Eule, wo der Betreuer der [413]  Ringermannschaft zwar nur
wenig an Körpergröße, dafür aber allem Anschein nach umso mehr an
Selbstvertrauen hinzugewonnen hatte.
    Den Jahrbüchern von 1938 und 1939 entnahmen wir, dass sich der
spätere Harvard-Student, der als Berufswunsch »Bühnenkünstler« angegeben hatte,
auf den Brettern des Theaterclubs in eine äußerst attraktive Femme fatale
verwandelt hatte – mit nymphenhafter Ausstrahlung.
    »Er sah gut aus, oder?«, fragte ich Elaine.
    »Er sieht aus wie du, Billy – gut, aber anders gut«, sagte Elaine.
    »Da muss er schon mit meiner Mutter zusammen gewesen sein«, sagte
ich, als wir die 1939er Eule durchhatten und nach
Bancroft Hall zurückliefen. (Mein Vater war demnach erst fünfzehn gewesen, als
meine Mutter schon neunzehn war!)
    »Falls ›zusammen sein‹ der richtige Ausdruck ist«, sagte Elaine.
    »Wie meinst du das?«
    »Du musst mit deinem Großvater reden, Billy – wenn du ihn mal allein
erwischst«, riet mir Elaine.
    »Ich könnte versuchen, erst mit Onkel Bob zu reden, wenn ich den mal
allein erwische. Bob ist nicht so schlau wie Grandpa Harry«, sagte ich.
    »Ich hab’s!«, rief Elaine aus. »Erst redest du mit dem Mann von der
Zulassungsstelle, sagst ihm aber, du hättest schon
mit Grandpa Harry gesprochen – und dass der dir alles erzählt hat, was er
weiß.«
    »So dumm ist Bob nun auch wieder nicht«, dämpfte ich ihren
Enthusiasmus.
    [414]  »O doch«, stellte sie fest.
    Wir hatten noch ungefähr eine

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