In einer Person
baff ich
war, und auch Richard hatte seine Aura als Jungstar verloren; er wirkte
verwirrt, sogar verunsichert. Schließlich fuhr Miss Frost fort: »Ich meine
natürlich die Brontë-Schwestern.«
»Ach, natürlich!«, rief Richard, sichtlich erleichtert.
»Emily Brontë hat Sturmhöhe geschrieben«,
erklärte mir Miss Frost, »und von Charlotte Brontë stammt Jane
Eyre. «
»Trau nie einem Mann mit verrückter Ehefrau auf dem Dachboden«,
sagte Richard zu mir. »Und vor jemandem mit Namen Heathcliff sollte man sich
von vornherein in Acht nehmen.«
»In beiden Büchern wird heftig geschwärmt «,
stellte Miss Frost vielsagend fest.
»Aber doch hauptsächlich von Frauen, oder?«, fragte [66] Richard die Bibliothekarin. »Bill bräuchte vielleicht eher
eine Schwärmerei oder Schwärmereien eines jungen Mannes. «
»Schwärmereien sind Schwärmereien«, antwortete Miss Frost, ohne zu
zögern. »Es kommt darauf an, wie es geschrieben wurde; Sie wollen doch nicht etwa behaupten, Sturmhöhe und Jane Eyre seien ›reine Frauenliteratur‹, oder?«
»Natürlich nicht! Natürlich kommt es darauf an, wie ein Buch geschrieben wurde!«, rief Richard Abbott aus. »Ich meine ja
nur, dass ein männlicheres Abenteuer –«
»Ein männlicheres «, wiederholte Miss
Frost. »Hmm, wie wär’s mit Fielding?«, fragte sie.
»Genau!«, rief Richard. »Sie meinen Tom Jones ?«
»Aber ja«, antwortete Miss Frost seufzend. »Wenn man sexuelle
Eskapaden als ein Ergebnis von Schwärmereien gelten
lassen möchte –«
»Warum nicht?«, sagte Richard Abbott rasch.
» Wie alt bist du?«, fragte mich Miss
Frost. Wieder streiften ihre langen Finger meine Schulter. Ich dachte daran, wie
Tante Muriel in Ohmacht gefallen war (sogar zweimal), und befürchtete kurz,
demnächst meinerseits das Bewusstsein zu verlieren.
»Ich bin dreizehn«, sagte ich.
»Mit dreizehn sind drei Romane für den Anfang genug«, sagte sie zu
Richard. »Es wäre unklug, den Jungen zu früh mit Schwärmereien zu überfrachten.
Wir sollten abwarten, wohin ihn diese drei Romane führen, einverstanden?«
Wieder lächelte Miss Frost mich an. »Fang mit dem Fielding an«, riet sie mir.
»Er ist von den dreien wohl am einfachsten gestrickt. Du wirst merken, dass die
Brontë-Schwestern [67] emotionaler und psychologischer sind. Als Romanautorinnen
sind sie erwachsener.«
»Miss Frost?«, sagte Richard Abbott. »Haben Sie je auf der Bühne gestanden… ich meine geschauspielert ?«
»Nur in Gedanken«, antwortete sie ihm beinahe kokett. »Als ich
jünger war – ständig.«
Richard sah mich mit Verschwörermiene an; ich wusste genau, was der
junge Neuzugang bei den First Sister Players dachte. Vor uns stand ein wahrer
Ausbund an sexueller Stärke; für Richard und mich war
Miss Frost eine Frau von unbändigem Freiheitsdrang,
die außerdem noch etwas Anarchisches hatte.
Für einen jüngeren Mann wie Richard Abbott und für mich – einen
dreizehnjährigen Tagträumer, den plötzlich der Wunsch packte, die Geschichte
seiner Schwärmereien für die Falschen zu schreiben und mit einer Bibliothekarin von Mitte dreißig Sex zu haben – hatte Miss Frost
fraglos eine gewisse sexuelle Präsenz.
»Es gäbe da eine Rolle für Sie, Miss Frost«, tastete Richard Abbott
sich behutsam vor, während wir uns hinter ihr durch die Regale schlängelten,
aus denen sie meine ersten drei literarisch anspruchsvollen Romane
herauszog.
»Im Grunde eine von zwei möglichen Rollen«, präzisierte ich.
»Ja, Sie haben die Wahl«, fügte Richard rasch hinzu. »Zwischen der
Hedda in Hedda Gabler oder der Nora in Nora oder Ein Puppenheim. Kennen Sie Ibsen? Seine Stücke
werden häufig als Problemstücke bezeichnet –«
»Die Qual der Wahl«, sagte Miss Frost und lächelte mich an.
»Entweder ich darf mir in die Schläfe schießen, oder ich [68] bin die Sorte Frau,
die ihre drei kleinen Kinder im Stich lässt.«
»Ich halte beides für eine positive Entscheidung, in beiden Fällen«, versicherte ihr Richard Abbott.
»O ja, ausgesprochen positiv !«, sagte Miss
Frost lachend und spreizte ihre langen Finger. (Wenn sie lachte, klang ihre
Stimme zuerst tief und rauh, sprang dann aber fast augenblicklich in eine
höhere, hellere Stimmlage.)
»Regie führt Nils Borkman«, warnte ich Miss Frost; ich wollte sie
bereits beschützen, dabei hatten wir uns eben erst kennengelernt.
»Mein lieber Junge«, sagte Miss Frost zu mir, »als gäbe es auch nur
eine Menschenseele in First Sister, die
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