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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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eine Weile in New York gelebt hat, kommt es einem unvorstellbar
vor, irgendwo anders zu leben.
    Als immer mehr unserer Freunde an dem Virus erkrankten, bildeten
Elaine und ich uns ein, dass wir die eine oder [554]  andere der mit Aids einhergehenden
sogenannten opportunistischen Infektionen auch bekamen. Elaine litt plötzlich
an Nachtschweiß. Ich wachte auf und bildete mir ein, spüren zu können, wie sich
die weißen Candida-Beläge auf meinen Zähnen ausbreiteten. (Ich gab Elaine
gegenüber zu, dass ich oft nachts aufwachte und mittels eines Spiegels und
einer Taschenlampe in meinen Mund spähte!) Und es gab das Seborrhoische Ekzem;
es war schuppig und sah schmierig aus – meist machte es sich auf Augenbrauen,
Kopfhaut und den Nasenflügeln breit. Herpes konnte sich auf den Lippen
ausbreiten, und Geschwüre heilten einfach nicht mehr ab. Außerdem entstanden
richtige Haufen von Dellwarzen, Molluscum; sie sahen wie Pocken aus und konnten
das ganze Gesicht bedecken.
    Und dann haben die Haare einen bestimmten Geruch, wenn sie vom
Schweiß verfilzt und vom Kissen plattgedrückt werden. Die Haare sind nicht nur
durchscheinend und riechen komisch. Hinzu kommt das Salz, das auf der Stirn
trocknet und hart wird, was an dem Fieber und dem pausenlosen Schwitzen liegt;
nicht zu vergessen die Schleimhäute – sie sind voller Pilze. Der Geruch ist
hefig und fruchtig zugleich, so wie geronnene Milch, Schimmel oder feuchte
Hundeohren.
    Ich fürchtete mich nicht vor dem Sterben; ich fürchtete mich vor den
endlosen Schuldgefühlen, weil ich nicht starb. Ich
konnte nicht akzeptieren, dass ich dem Aidsvirus entgehen würde oder könnte,
weil mir ein Arzt, der mich nicht leiden konnte, zufällig befohlen hatte,
Kondome zu benutzen, oder dass ich vielleicht verschont blieb, weil ich zufällig
das Glück hatte, der aktive Partner zu sein. Ich schämte [555]  mich nicht für mein
Sexualleben; ich schämte mich, weil ich nicht für die Menschen da sein wollte,
die im Sterben lagen.
    »Ich bin nicht gut bei so was. Aber du«, sagte ich zu Larry; ich
meinte mehr als Händchenhalten und aufmunternde Worte.
    Kryptokokkose wurde durch einen Pilz verursacht; sie griff aufs Hirn
über, führte zu Meningitis und wurde durch eine Lumbalpunktion nachgewiesen –
Begleiterscheinungen waren Fieber, Kopfschmerzen und Verwirrung. Es gab eine
davon unabhängige Erkrankung des Rückenmarks, eine Myelopathie, die zu
fortschreitender Schwäche führte – Funktionsverlust der Beine, Inkontinenz. Man
konnte wenig dagegen tun; die Krankheit hieß vakuoläre Myelopathie.
    Ich sah zu, wie Larry die Bettpfanne unseres Freundes leerte, der an
einer schrecklichen Myelopathie litt; ich bewunderte Larry wirklich – er war zu
einem echten Heiligen geworden –, als mir plötzlich auffiel, dass ich keinerlei
Schwierigkeiten hatte, das Wort Myelopathie oder
irgendwelche anderen Wörter auszusprechen, die mit Aids zu tun hatten.
(Beispielsweise Pneumocystis-Pneumonie – ich konnte
das problemlos sagen. Kaposisarkome, diese schrecklichen Läsionen, bereiteten
mir ebenfalls keine Ausspracheprobleme; ich konnte Kryptokokkose sagen, als handelte es sich dabei um eine ganz normale Erkältung. Ja, ich
zögerte nicht einmal, Zytomegalievirus auszusprechen – eine wichtige Ursache von Blindheit bei Aids.)
    »Ich sollte deine Mutter anrufen«, sagte ich Elaine. »Offenbar erlebe
ich gerade einen Aussprachedurchbruch.«
    »Was nur daran liegt, dass du auf Distanz zu dieser [556]  Krankheit
gehst, Billy«, sagte Elaine. »Du bist wie ich – du stellst dir vor, du stündest
außerhalb und blicktest nach drinnen.«
    »Ich sollte trotzdem deine Mutter anrufen«, wiederholte ich, wusste
aber, dass Elaine recht hatte.
    »Sag doch mal ›Penis‹, Billy.«
    »Das ist ungerecht, Elaine – das ist etwas anderes.«
    »Sag schon«, sagte Elaine.
    Doch ich wusste, wie es sich anhören würde. Es war, ist und wird für
mich immer Penith sein; manches ändert sich nie. Ich
versuchte es erst gar nicht. Stattdessen sagte ich »Schwanz«.
    Ich rief Mrs. Hadley auch nicht wegen meines Aussprachedurchbruchs
an. Ich versuchte tatsächlich, mich von HIV zu
distanzieren, schon als die Seuche sich gerade erst auszubreiten begann. Ich
fühlte mich bereits schuldig, weil ich sie nicht hatte.
    In diesem Jahr, 1981, kam die Weihnachtskarte der Familie Atkins
pünktlich. Keine neutralen »Frohe Festtage« mit über einem Monat Verspätung,
sondern eindeutige »Frohe Weihnachten« im

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