In einer Person
neuzeitlichen Komponenten, die am altmodischen Image des
pingeligen Mannes kratzten, waren die Sandalen. Es waren Sandalen von der
Sorte, wie sie junge Naturburschen tragen, wenn sie durch tosende Flüsse waten
und durch schnellfließende Bäche laufen – Sandalen mit dem soliden Bau und
auffallenden Profil von Laufschuhen.
»Bovary«, sagte er und streckte die Hand aus, mit dem Handrücken
nach oben, so dass ich nicht wusste, ob ich sie schütteln oder küssen sollte.
(Ich entschied mich fürs Schütteln.)
»Ich bin wirklich froh, dass Sie mich kontaktiert haben«, sagte ich
ihm.
»Ich weiß nicht, worauf dein Vater gewartet hat, schließlich ist
deine Mutter – una mujer difícil, ›eine schwierige
Frau‹ – nun seit zweiunddreißig Jahren tot. Es sind doch zweiunddreißig,
oder?«, fragte der kleine Mann.
»Ja«, sagte ich.
»Verrat mir deinen HIV -Status; ich
erzähl’s deinem Vater«, sagte Bovary. »Er kann es nicht erwarten, es zu
erfahren, doch ich kenne ihn – er würde nie selbst fragen. Er [685] würde sich nur
Sorgen machen, nachdem du wieder nach Hause geflogen bist. Er ist ein
schrecklicher Zauderer!«, rief Bovary zärtlich und schenkte mir ein
schelmisches Lächeln.
Ich sagte es ihm: Alle meine Tests sind negativ; ich bin nicht an HIV erkrankt.
»Kein Giftcocktail für dich – so soll’s sein!«, rief Señor Bovary
aus. »Wir haben den Virus auch nicht – falls es dich interessiert. Ich gestehe,
dass ich nur Sex mit deinem Vater hatte, und dein Dad hatte – von dem wahrhaft desaströsen Techtelmechtel mit deiner Mom abgesehen – nur
Sex mit mir. Geht’s noch langweiliger ?«, fragte mich
das Männlein und lächelte dabei. »Ich habe deine Romane gelesen – genau wie dein Vater, natürlich. Nach allem, was du so geschrieben
hast, kann man deinem Dad keinen Vorwurf machen, dass er sich um dich sorgt! Wenn du nur die Hälfte von dem erlebt hast, worüber du schreibst, dann musst du mit allen Sex gehabt haben!«
»Mit Männern und Frauen, ja – mit allen, nein«, gab ich lächelnd zurück.
»Ich frage nur, weil er nicht fragen wird.
Ganz ehrlich, du wirst deinen Vater treffen und anschließend das Gefühl haben,
tiefgründigere Interviews erlebt zu haben als alles,
was er dich fragen oder dir auch nur sagen wird«,
warnte mich Señor Bovary. »Was nicht heißt, dass es ihn nicht kümmert – ich übertreibe nicht, wenn ich behaupte, dass er
sich ständig Sorgen um dich macht –, aber dein Vater
ist ein Mensch, der an die Unantastbarkeit der Privatsphäre glaubt. Dein Dad
ist ein sehr privater Mensch. Er ist nur wegen einer
einzigen Sache je an die Öffentlichkeit gegangen.«
[686] »Und das wäre?«, fragte ich.
»Ich werde dir die Show nicht verderben. Wir sollten ohnehin
aufbrechen«, sagte Señor Bovary nach einem Blick auf seine Uhr.
» Welche Show?«, fragte ich ihn.
»Schau, ich bin nicht der Bühnenkünstler – ich verwalte nur das
Geld«, sagte Bovary. »Du bist zwar der Schriftsteller in der Familie, doch dein Vater weiß ebenfalls sehr gut, wie
man eine Geschichte erzählt – auch wenn es immer dieselbe Geschichte ist.«
Ich folgte ihm, in einem recht flotten Tempo, von der Plaza Mayor
zur Puerta del Sol. Offenbar hatte Bovary diese Outdoor-Sandalen, weil er
Fußgänger war; bestimmt ging er in Madrid überallhin zu Fuß. Er war schlank und
fit; er hatte sehr wenig zu Abend gegessen und nur Mineralwasser getrunken.
Es war etwa neun Uhr abends, doch auf der Straße waren jede Menge
Leute. Als wir die Montero hochgingen, kamen wir an einigen Prostituierten
vorbei – »Akkordarbeiterinnen«, wie Bovary sie nannte.
Ich hörte eine von ihnen das Wort guapo sagen.
»Sie sagt, du bist hübsch«, dolmetschte Señor Bovary.
»Vielleicht meint sie dich «, erwiderte
ich; er sah sehr gut aus, wie ich fand.
»Mich meint sie nicht, mich kennt sie«, sagte Bovary knapp und sehr
geschäftsmäßig.
Dann überquerten wir die Gran Vía und betraten neben dem
Telefónica-Hochhaus den Chueca-Bezirk. »Wir sind ein wenig zu früh dran«, sagte
Señor Bovary nach einem erneuten Blick auf die Uhr. Anscheinend spielte er kurz
mit [687] dem Gedanken, einen Umweg zu machen. »In dieser Straße ist eine
Bärenbar«, sagte er und hielt an der Kreuzung Hortaleza und Calle de las
Infantas kurz an.
»Ja, Hot – ich hab da gestern Abend ein Bier getrunken«, sagte ich
ihm.
»Bären sind okay, wenn man auf Bäuche steht«, sagte Bovary.
»Ich habe nichts gegen Bären – ich mag
Weitere Kostenlose Bücher