In einer Person
nicht mit der Hand geschrieben:
Señor Bovary
Kürzlich besuchte ich im Sommer mit einem etwas zynischen
holländischen Freund die Gay-Pride-Parade in Amsterdam. Die Stadt ist ein
vielversprechendes Experiment, wie ich seit langem glaube, und die Parade
gefiel mir sehr [679] gut. Auf den Straßen schwappten Wellen tanzender Männer hin
und her – Typen in lila und rosa Leder, Jungs in knappen Speedo-Badehosen mit
Leopardmuster, küssende Männer in Jockstraps, eine hauteng mit feucht
aussehenden grünen Federn bedeckte Frau, die sich einen schwarzen
Strap-on-Dildo umgeschnallt hatte. Ich sagte zu meinem Freund, viele Städte
predigten Toleranz, aber Amsterdam praktiziere sie, ja, stelle sie sogar zur Schau. Während ich sprach, trieb auf einem der Kanäle
ein langer Kahn vorbei; an Bord spielte eine reine Frauen-Rockband, und manche
Frauen hatten durchsichtige Trikots an und winkten uns am Ufer Stehenden zu.
Die Frauen winkten mit Dildos.
Doch mein zynischer holländischer Freund warf mir einen
gelangweilten (und nicht sehr nachsichtigen) Blick zu; er schien dem schwulen
Treiben ebenso gleichgültig zu begegnen wie die meist ausländischen
Prostituierten in den Fenstern und Türen von Amsterdams Rotlichtbezirk de
Wallen.
»Amsterdam ist sowas von out «, sagte mein
holländischer Freund. »Die neue angesagte Schwulenszene in Europa ist in
Madrid.«
»Madrid«, wiederholte ich, wie es meine Art war. Ich war ein alter
Bi-Typ von Ende sechzig, der in Vermont wohnte. Was wusste ich schon von der
neuen angesagten Schwulenszene in Europa? (Was wusste ich von irgendeiner
bescheuerten Szene ?)
Señor Bovarys Empfehlung folgend, stieg ich in Madrid im Santo
Mauro ab; es war ein hübsches ruhiges Hotel an der Calle de Zurbano – einer schmalen
baubestandenen Straße [680] (in einer ruhigen, langweilig wirkenden Wohngegend)
»in Gehweite von Chueca«. Na ja, man hatte aber lange bis Chueca zu gehen, »dem Schwulenviertel von Madrid«, wie Señor Bovary Chueca
in seiner E-Mail an mich genannt hatte. In Bovarys maschinengeschriebenem
Brief, der an Onkel Bobs Büro für ehemalige Schüler an der Favorite River
Academy adressiert war, stand keine Absenderadresse, nur eine E-Mail-Adresse
und Señor Bovarys Handynummer.
Der zuerst briefliche und anschließende E-Mail-Kontakt mit dem
langjährigen Partner meines Vaters ließ vermuten, dass ich es bei ihm mit einer
seltsamen Mischung aus altmodisch und zeitgenössisch zu tun hatte.
»Ich schätze, dieser Bovary ist so alt wie dein Dad, Billy«, hatte
Onkel Bob mich vorgewarnt. Aus der 1940er Eule wusste
ich, dass William Francis Dean 1924 geboren wurde, folglich waren mein Vater
und Señor Bovary jetzt 86. (Aus derselben 1940er Eule wusste ich, dass Franny Dean als Berufsziel »Bühnenkünstler« angegeben hatte,
aber welche Bühnenkunst genau?)
Aus den E-Mails »dieses Bovary«, wie Schläger-Bob den Geliebten
meines Dads nannte, ging hervor, dass mein Vater von meiner bevorstehenden
Reise nach Madrid nichts wusste; es war einzig und allein Señor Bovarys Idee,
und ich befolgte strikt seine Anweisungen. »Mach am Tag deiner Ankunft einen
Spaziergang durch Chueca. Geh an diesem ersten Abend früh zu Bett. An deinem
zweiten Abend treffe ich dich zum Essen. Wir schlendern ein Weilchen herum;
schließlich landen wir in Chueca, und ich bringe dich in den Club. Wüsste dein
Vater, dass du kommst, wäre er nur gehemmt«, stand in Señor Bovarys E-Mail.
[681] Welcher Club ?
»Franny war kein schlechter Kerl, Billy«, hatte Onkel Bob zu mir
gesagt, als ich noch Schüler auf der Favorite River Academy war. »Er war halt
einfach nur so ein bisschen vom anderen Ufer, verstehst du?« Wahrscheinlich
brachte mich Bovary in so einen Club. Doch was für ein Schwulenclub war es? (Sogar ein alter Bi-Typ
aus Vermont weiß, dass es mehr als eine Sorte Schwulenclubs gibt.)
Am späten Nachmittag und bei 32 Grad Celsius waren in Chueca die
meisten Geschäfte wegen der Siesta noch geschlossen; aber es war eine trockene
Hitze – äußerst angenehm für einen Besucher, der gerade aus der
Kriebelmückensaison in Vermont nach Madrid kam. Für mein Gefühl war die Calle
de Hortaleza eine geschäftige Straße voller kommerzialisiertem Schwulensex;
sogar zur Siestazeit standen hier die Zeiger auf Sextourismus. Ein paar ältere
Männer lungerten herum, nur gelegentlich sah man Grüppchen jüngerer Schwuler;
an Wochenenden würden beide Fraktionen in größeren Mengen vertreten sein, doch
jetzt
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