In einer Person
diesen Lesesaal nicht zu [91] interessieren; höchstens dass
sich dort gelegentlich ein Lehrer einfand, um zu lesen oder Aufsätze und
Klausuren zu korrigieren.
Die Favorite River Academy war alt, sie war im 19. Jahrhundert
gegründet worden. Ich sah mir gern die alten Jahrbücher an. (Vielleicht steckte
ja die Vergangenheit prinzipiell voller Geheimnisse, und meine auf jeden Fall.)
Wenn ich so weitermachte, bildete ich mir ein, würde ich irgendwann beim
Jahrbuch meiner Abschlussklasse ankommen – aber nicht vor Ende meines letzten
Schuljahres. Doch zu Beginn meines elften Schuljahres war ich erst bei den
Jahrbüchern von 1914/15 angekommen. Der Erste Weltkrieg hatte bereits begonnen;
die Jungs auf der Favorite River Academy hatten bestimmt Angst. Ich sah mir die
Gesichter der Abschlussklässler genau an und las, auf welche Colleges sie
anschließend gehen und was sie werden wollten; viele jener Schüler waren in
Bezug auf beides noch »unentschieden«. Fast alle Schüler der letzten Klassen
hatten schon damals Spitznamen.
Besonders gründlich sah ich mir die Fotos der Ringermannschaft an,
die des Theaterclubs etwas weniger, dessen Mitglieder geschminkt waren und
Mädchenkleider trugen. Offenbar hatte es auf der Favorite River Academy immer
eine Ringermannschaft und einen Theaterclub gegeben. (Man muss bedenken, dass
ich die Jahrbücher von 1914/15 im Herbst 1959 durchsah; die Tradition der
streng nach Geschlechtern getrennten Internate wurde in den Fünfzigern und bis
hinein in die Sechziger eisern beibehalten.)
Vermutlich gefiel mir der Jahrbuchraum, in den sich gelegentlich ein
Lehrer verirrte, auch, weil dort nie andere [92] Schüler auftauchten – mit
anderen Worten: keine Rüpel und keine aufreizenden Schwärmereien. Ich konnte
mich glücklich schätzen, dass ich in Richard und Moms Lehrerwohnung mein
eigenes Zimmer hatte. Alle Internatsschüler auf der Academy hatten Mitbewohner.
Nicht auszudenken, welche Misshandlungen oder subtileren Formen von Grausamkeit
ich durch einen Zimmergenossen hätte erleiden müssen. Und was hätte ich mit den
Versandkatalogen meiner Mutter gemacht? (Allein der Gedanke, nicht mehr
masturbieren zu können, war schon Misshandlung genug – also wirklich, allein die Vorstellung !)
Mit siebzehn, im Herbst 1959, hatte ich keinen Grund mehr, in die
öffentliche Bibliothek von First Sister zu gehen – jedenfalls keinen Grund, den
ich in Worte zu fassen gewagt hätte. Ich hatte einen Zufluchtsort gefunden, wo
ich meine Hausaufgaben machen konnte; in dem Jahrbuchraum der
Internatsbibliothek konnte ich ungestört schreiben oder auch nur meinen
Phantasien nachhängen. Doch zweifellos fehlte mir Miss Frost. Sie war für mein
Bedürfnis nicht oft genug auf der Bühne, und da ich die Proben der First Sister
Players schwänzte, sah ich Miss Frost jetzt nur noch bei ihren richtigen
Auftritten, und die waren für meinen Geschmack viel zu selten.
Ich hätte mit Grandpa Harry darüber reden können; der hätte es
verstanden. Ihm hätte ich erzählen können, dass Miss Frost mir fehlte, dass ich
für sie und diese älteren Jungs schwärmte – selbst
von meiner früheren, unangemessenen Schwärmerei für meinen Stiefvater Richard
Abbott hätte ich ihm erzählen können. Doch ich erwähnte sie mit keiner Silbe –
noch nicht.
[93] War Harry Marshall ein richtiger Transvestit? Zog Grandpa Harry
sich einfach nur gelegentlich Frauenklamotten an, oder steckte mehr dahinter?
Würden wir meinen Grandpa heutzutage einen verkappten Schwulen nennen, der sich
nur als Frau verkleidete, wenn es gesellschaftlich
statthaft war? Keine Ahnung. Wenn schon meine Generation unterdrückt war, und
das war sie zweifellos, kann ich mir vorstellen, dass Homosexuelle aus der
Generation meines Großvaters – ob nun lupenrein oder nicht – alles daransetzten,
unbemerkt zu bleiben.
Das war auch der Grund, warum ich damals dachte, es gäbe kein Mittel
gegen Miss Frosts Abwesenheit – außer man dachte sich einen Vorwand aus, um sie
zu sehen. (Wenn ich wirklich Schriftsteller werden wollte, musste mir doch ein triftiger Grund für einen neuerlichen Besuch der First Sister
Library einfallen.) Und so dachte ich mir eine Geschichte aus, wonach ich nur
in der Stadtbücherei schreiben könne, wo mich meine Freunde von der Academy
nicht ständig störten. Vielleicht wusste Miss Frost ja nicht, dass ich ohnehin
kaum Freunde hatte, und meine wenigen Freunde auf Favorite River zogen den Kopf
ein und waren genauso
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