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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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war also nicht Richard Abbotts
Geschichte, sondern ein Kriegsabenteuer meines Vaters, das Richard mir unmöglich erzählt haben konnte.
    Die Geschichte (oder der Traum) begann in Hampton, Virginia – im
Einschiffungshafen von Hampton Roads war mein Codeknacker-Vater an Bord eines
Transportschiffs gegangen, das nach Italien fuhr. Die Transportschiffe waren
Liberty-Frachter. An einem wolkenverhangenen Januartag legte das Boot mit der
Bodentruppe des 760. Bombengeschwaders in Virginia ab; im Schutz des Hafens
nahmen die Soldaten ihre erste Mahlzeit auf See ein: Schweinekoteletts, erfuhr
ich in der Geschichte (oder meinem Traum). Als der Konvoi meines Vaters auf
offener See war, gerieten die Liberty-Frachter in einen Wintersturm über dem
Atlantik. Die vorderen und hinteren Laderäume waren mit den Rekruten belegt;
jedermann hatte seinen Helm neben der Koje hängen – bald wurden die Helme zu
Spuckeimern für die seekranken Soldaten umfunktioniert. Aber der Sergeant wurde
nicht seekrank. Meine Mutter hatte mir erzählt, dass er auf Cape Cod
aufgewachsen und als Junge gesegelt war – gegen Seekrankheit war er also immun.
    [123]  Folglich tat mein Codeknacker-Vater seine Pflicht: Er leerte die
Helme der seekranken Kameraden. Mittschiffs, auf Deck – ein mühsamer Aufstieg
von den Kojen im Unterdeck –, befand sich ein großer Donnerbalken. (Selbst im
Traum musste ich die Geschichte unterbrechen, um zu fragen, was ein
»Donnerbalken« sei; der Erzähler, den ich für Richard hielt, obwohl er es nicht
gewesen sein konnte, erklärte mir, der Donnerbalken sei eine große Latrine
gewesen.)
    Bei einem seiner vielen leidvollen Gänge zum Helmleeren legte mein
Vater eine Pause ein, um sich auf eine der Toiletten zu setzen. Man konnte
unmöglich im Stehen pinkeln (dafür schlingerte und schwankte das Schiff zu
sehr), sondern musste sich setzen. Mein Vater saß da und klammerte sich mit
beiden Händen an die Klobrille. Meerwasser schwappte ihm um die Knöchel, so
dass Schuhe und Hose nass wurden. Ganz am anderen Ende der langen
Toilettenreihe hielt sich ein anderer Soldat an einer Klobrille fest,
allerdings nur mit einer Hand. Mein Vater sah, dass auch der andere Soldat
gegen Seekrankheit immun war; er las sogar. Als das Schiff plötzlich stark
krängte, verlor der Bücherwurm den Halt. Er kam – mit aufklatschendem Hintern –
über sämtliche Klositze angerutscht, bis er mit meinem Vater am anderen Ende
der langen Sitzreihe zusammenstieß.
    »’tschuldigung – ich musste einfach weiterlesen!«, sagte er. Dann
legte sich das Schiff in die andere Richtung, und der Soldat trat den Rückzug
an, indem er wieder über sämtliche Klositze rutschte. Am letzten Sitz
angekommen, fiel ihm das Buch entweder aus der Hand, oder er ließ es los [124]  und
packte die Klobrille mit beiden Händen. Das Buch trieb auf dem Meerwasser
davon.
    »Was haben Sie gelesen?«, rief der Codeknacker.
    »Madame Bovary!«, rief der Soldat zurück.
    »Ich kann Ihnen die Handlung erzählen«, sagte der Sergeant.
    »Bitte nicht!«, antwortete der Bücherwurm. »Ich will das Buch selber
auslesen!«
    In dem Traum, oder in der Geschichte, erzählte mir jemand (und zwar
nicht Richard Abbott), dass mein Vater diesen Soldaten die ganze restliche
Überfahrt nicht wiedersah. »Vorbei an dem wolkenverhangenen Gibraltar«,
erzählte mir jemand (in der Geschichte oder im Traum), »glitt der Konvoi ins
Mittelmeer.«
    Eines Nachts vor der Küste Siziliens wurden die Soldaten im
Unterdeck von lautem Krach und Kanonendonner geweckt; der Konvoi wurde von der
deutschen Luftwaffe beschossen. Hinterher erfuhr mein Vater, dass ein
benachbarter Liberty-Frachter getroffen worden und mit Mann und Maus gesunken
war. Dem Latrinenrutscher allerdings, der während des Sturms Madame Bovary gelesen hatte und von dem mein Vater nicht
einmal den Namen wusste, ist er im Krieg nicht wiederbegegnet.
    »Jahre später«, hieß es im Traum (oder in der Geschichte), machte
mein Vater gerade seinen Abschluss in Harvard und fuhr mit der Bostoner U-Bahn,
der MTA , von der Haltestelle Charles Street zum
Harvard Square.
    Am Kendall Square stieg ein Mann ein, der ihm immer wieder seltsame
Blicke zuwarf. Dem Sergeant wurde von diesem Interesse des fremden Mannes an
ihm [125]  »unbehaglich«; »es hat sich unnatürlich angefühlt – wie die Ankündigung
von etwas Gewalttätigem, oder jedenfalls Unangenehmem«. (Dank der Sprache kam
mir dieser wiederkehrende Traum realer vor als andere Träume. Es

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