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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Termine bei ihr
hatte und weil ich sie in ihrem Büro aufsuchte – es lag im Musikgebäude der
Academy.
    Mit siebzehn hatte ich noch keinen Psychologen konsultiert; wäre ich
je versucht gewesen, mich mit Herrn Doktor Grau zu unterhalten, hätte mein
geliebter Stiefvater Richard Abbott mir das bestimmt ausgeredet. Außerdem starb
der alte Grau just in dem Winter, in dem ich brav [181]  meine Termine bei Mrs.
Hadley einhielt. Die Favorite River Academy sollte ihn schließlich durch einen
jüngeren (was nicht heißt moderneren) Schulpsychologen ersetzen, allerdings
erst im darauffolgenden Herbst.
    Im Übrigen brauchte ich keinen Psychologen, solange ich zu Martha
Hadley ging; während sie die Heerscharen von Wörtern aufstöberte, deren
Aussprache mir schwerfiel, und weit ausholend den Grund (oder die Gründe)
meiner Sprachfehler erörterte, wurde die ausgewiesene Stimmbildnerin und
Gesangslehrerin Mrs. Hadley meine erste Psychologin.
    Je besser ich sie kennenlernte, desto klarer wurde mir, was mich zu
ihr hinzog – egal, wie unscheinbar sie war. Martha Hadley war auf eine
maskuline Art unscheinbar; sie hatte schmale Lippen, aber einen großen Mund und
ein kräftiges Gebiss. Ihr Kinn war so markant wie das von Kittredge, doch der
Hals lang und überraschend feminin. Wie Miss Frost hatte sie breite Schultern
und große Hände. Ihre Haare waren länger als die von Miss Frost, und sie trug
sie straff zu einem Pferdeschwanz gebunden. Ihre flache Brust erinnerte mich
jedes Mal an Elaines besonders große Brustwarzen mit diesen pigmentierten
Kreisen drum herum – den Warzenhöfen; ich stellte mir vor, dass sich so etwas
von der Mutter auf die Tochter vererbte. Doch anders als Elaine sah Mrs. Hadley
sehr kräftig aus. Ich merkte, wie gut mir gerade das an ihr gefiel.
    Als die Wörter Brustwarzen und Warzenhöfe meiner langen Liste mit Ausspracheproblemen
hinzugefügt wurden, fragte mich Martha Hadley: »Besteht die Schwierigkeit in
dem, was die Wörter bezeichnen?«
    [182]  »Vielleicht«, antwortete ich ihr. »Zum Glück sind es keine
Wörter, die einem täglich unterkommen.«
    » Bibliothek und Bibliotheken hingegen oder gar Penis  –«, überlegte Mrs.
Hadley laut.
    »Da macht mir der Plural noch größere Probleme«, rief ich ihr ins
Gedächtnis.
    »›Die Penisse‹ wirst du wohl nicht allzu oft in den Mund nehmen,
Billy«, sagte Martha Hadley.
    »Nicht täglich«, erwiderte ich. Womit ich meinte, dass sich kaum je
die Gelegenheit ergab, das Wort Penisse auszusprechen – nicht, dass ich nicht täglich an Penisse dachte, das schon. Und so –
vielleicht weil ich Elaine, Richard Abbott und Grandpa Harry nichts gesagt
hatte, und wahrscheinlich, weil ich mich nicht traute, es Miss Frost zu sagen –
erzählte ich Mrs. Hadley alles. (Das heißt, fast alles.)
    Mit meiner Schwärmerei für Kittredge fing ich an. »Du und Elaine!«, sagte Martha Hadley. (Elaine hatte also nicht
einmal vor ihrer Mutter damit hinterm Berg gehalten!)
    Ich erzählte Mrs. Hadley, dass ich mich erotisch zu anderen Ringern
hingezogen gefühlt hatte, noch bevor ich Kittredge sah, und dass ich – beim
Durchstöbern der alten Jahrbücher in der Favorite-River-Bibliothek – eine
besondere Vorliebe für die Fotos vom Ringerteam entwickelt hatte, während mich
die vom schulischen Theaterclub nur flüchtig interessierten. (»Verstehe«, sagte
Mrs. Hadley.)
    Ich erzählte ihr sogar von meiner schon etwas nachlassenden
Schwärmerei für Richard Abbott, die mir am meisten zu schaffen machte, bevor er
mein Stiefvater wurde. (»Du meine Güte – muss das peinlich gewesen sein!«, rief Martha Hadley aus.)
    [183]  Doch als meine Schwärmerei für Miss Frost an der Reihe gewesen
wäre, hörte ich auf; Tränen schossen mir in die Augen. »Was ist los, Billy? Du
kannst es mir ruhig sagen«, versicherte mir Mrs. Hadley. Sie nahm meine Hände
in ihre größeren, stärkeren. Ihr langer Hals, ihre Kehle, war vielleicht das
einzig Hübsche an ihr; ohne es zu wissen, konnte ich nur vermuten, dass ihre
kleinen Brüste denen Elaines glichen.
    In Mrs. Hadleys Büro standen nur ein Klavier mit Bank, ein altes
Sofa (auf dem wir immer saßen) und ein Schreibtisch mit einem Stuhl davor. Der
Blick aus dem Fenster im zweiten Stock war nicht weiter aufregend – die
knorrigen Stämme zweier alter Ahornbäume, etwas Schnee auf den eher waagrechten
Ästen, grauweiße Wolkenfetzen am Himmel. Das Foto von Mr. Hadley (auf Mrs.
Hadleys Schreibtisch) war auch nicht weiter

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