In einer Person
deiner Mutter – sag ihr
noch nichts«, riet sie mir.
»Warum?«, fragte ich. Ich dachte, dass ich es wüsste, wollte es aber
Mrs. Hadley sagen hören. »Weil sie ein bisschen angeknackst ist?«, fragte ich. »Oder weil sie wirkt, als wäre sie sauer auf mich – ich weiß
nicht, warum.«
»Was das Angeknackstsein angeht, bin ich
mir nicht so sicher«, sagte Martha Hadley. »Deine Mutter wirkt tatsächlich, als sei sie sauer auf dich – warum, weiß ich
auch nicht. Ich denke mir vor allem, dass sie sich ziemlich leicht aus dem Gleichgewicht bringen lässt – auf bestimmten
Gebieten, bei bestimmten Themen.«
»Was für Gebiete?«, fragte ich. »Welche Themen?«
»Gewisse sexuelle Dinge regen sie auf«, sagte Mrs. Hadley. »Billy,
ich weiß, dass sie dir manche Dinge verschwiegen hat.«
»Oh.«
»Wenn ich eins an New England hasse, dann diese ganze
Heimlichtuerei!«, rief Mrs. Hadley plötzlich aus; sie schaute auf ihr
Handgelenk, wo ihre Uhr hingehörte, und [187] musste über sich selbst lachen. »Ich
wüsste zu gern, wie sich Atkins mit den römischen Ziffern schlägt«, sagte sie,
und wir lachten beide. »Elaine kannst du es ruhig auch sagen, weißt du«, riet
mir Martha Hadley. »Elaine kannst du alles sagen, Billy. Außerdem glaube ich,
sie weiß es sowieso schon.«
Das glaubte ich auch, sagte es aber nicht. Ich dachte daran, wie
leicht meine Mutter aus dem Gleichgewicht kam. Ich
bereute, dass ich nicht zu Dr. Grau gegangen war, bevor er starb – und sei es
nur, um mich mit seiner Doktrin vertraut zu machen, dass Homosexualität heilbar wäre. (Vielleicht hätte mir das in den Folgejahren
so manchen Wutausbruch erspart, wenn ich wieder einmal diese saudumme These
hörte.)
»Das Gespräch mit Ihnen hat mir sehr geholfen«, sagte ich Mrs.
Hadley; sie trat von der Tür zurück, um mich durchzulassen. Ich fürchtete, sie
werde meine Hände oder Schultern packen oder sogar meinen Kopf erneut an ihre
harte Brust drücken und dass ich mich dann nicht beherrschen könnte, sie zu
umarmen – oder zu küssen, obwohl ich mich dafür auf die Zehenspitzen hätte
stellen müssen. Aber Martha Hadley berührte mich nicht; sie trat nur zur Seite.
»Mit deiner Stimme ist alles in Ordnung, Billy – rein organisch
fehlt deiner Zunge und deinem Gaumen nichts«, sagte sie. Ich hatte vergessen,
dass sie mir bei unserem ersten Termin in den Mund gesehen hatte.
Sie hatte mich aufgefordert, mit der Zungenspitze den oberen Gaumen
zu berühren, hatte diese mit einem Gazetupfer festgehalten und mit einem
weiteren Gazetupfer [188] meinen unteren Gaumen abgesucht, ihn offenbar nach etwas
abgetastet, das nicht da war. (Mir war es peinlich gewesen, dass ich von ihrem
Herumstöbern in meinem Mund eine Erektion bekam – ein weiteres Symptom für das,
was der alte Grau »infantile sexuelle Neigungen« genannt hatte.)
»Nichts Schlechtes über die Toten«, sagte Mrs. Hadley, als ich ging,
»aber du weißt hoffentlich, Billy, dass der verstorbene Dr. Grau und mein
einziger überlebender ärztlicher Lehrerkollege – ich meine Dr. Harlow – alle
beide Schwachköpfe sind.«
»Das sagt Richard auch«, antwortete ich ihr.
»Hör auf Richard«, sagte Mrs. Hadley. »Er ist ein netter Mann.«
Die Erkenntnis kam erst viele Jahre später: In einer kleinen, nur
beinahe erstklassigen Internatsschule gab es diverse Vertreter der
Erwachsenenwelt – darunter einige wahrhaft einfühlsame, gutherzige Exemplare,
die jungen Menschen das Erwachsenwerden verständlicher und erträglicher zu
machen versuchten, aber eben auch jene unbeugsamen und selbstgerechten Dr.
Graus und Dr. Harlows sowie andere homophobe Idioten,
die leider auch noch Nachkommen gezeugt haben.
»Wie ist Dr. Grau wirklich gestorben?«, fragte ich Mrs. Hadley.
Uns Jungs hatte man erzählt – diese Variante hatte uns Dr. Harlow
bei der Morgenversammlung aufgetischt –, Dr. Grau sei in einer Winternacht im
Innenhof zwischen den Wohnhäusern ausgerutscht und hingefallen. Die Wege waren
vereist; der alte Österreicher musste mit dem [189] Hinterkopf aufgeschlagen sein.
Dr. Harlow sagte nicht, dass Dr. Grau tatsächlich erfroren sei – ich glaube, er
benutzte den Ausdruck »Unterkühlung«.
Die Jungs aus dem Küchenteam fanden den Leichnam am Morgen. Einer
von ihnen sagte, Dr. Graus Gesicht sei so weiß wie der Schnee gewesen, ein
anderer, er habe mit offenen Augen dagelegen, ein Dritter, sie seien
geschlossen gewesen; übereinstimmend sagten die Küchenjungen,
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