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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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dass mein Urteil über Atkins genauso
bescheuert war wie die allgemeine Ablehnung von Homosexuellen. Ich selber
konnte Penisse nicht aussprechen und fühlte mich doch
einem anderen Jungen haushoch überlegen, der das Wort Zeit nicht über die Lippen brachte.
    Ich weiß noch, wie ich dachte, dass ich mir in Zukunft mehr Menschen
wie Martha Hadley suchen sollte, die mir wirklich helfen wollten. Dennoch würde
es immer auch andere geben, die mich verabscheuten und es sogar darauf
anlegten, mich zu kränken. Diese Erkenntnis ließ mich zu Eis erstarren – so wie
die eisige Winterluft einst Dr. Grau. Die Erkenntnis war ein ziemlicher
Brocken: zuerst der Termin mit meiner verständnisvollen Stimmbildnerin und
Gesangslehrerin – und zusätzlich die aufwühlende Entdeckung, dass Mrs. Hadley
eine dominante Frau war, die mich deswegen irgendwie sexuell anzog. Oder fand
ich sie etwa deswegen gerade nicht anziehend? (Erst
da kam mir der Gedanke, dass ich womöglich – und zwar sexuell – wie Mrs. Hadley sein, aber nicht mit ihr zusammen sein
wollte.)
    Vielleicht war Martha Hadley ein früher Hippie, ihrer Zeit weit
voraus; 1960 war das Wort Hippie noch nicht
gebräuchlich. Damals war mir das Wort schwul noch so gut wie nie zu Ohren
gekommen; auf der Favorite River Academy fiel es äußerst selten. Vielleicht war
»schwul« ein zu nettes Wort für Favorite River – jedenfalls klang es all den
homophoben Jungen zu neutral. Natürlich wusste ich, was [193]  »schwul« bedeutete –
man sagte es nur einfach nicht in meinem begrenzten Umfeld –, und sexuell
unerfahren, wie ich war, hatte ich mich noch kaum gefragt, was in der
anscheinend unerreichbaren Welt der Homoerotik wohl unter »dominant« und
»devot« zu verstehen sein mochte.
    Gar nicht so viele Jahre später, als ich mit Larry zusammenlebte – von all den Männern und Frauen, mit denen ich das Experiment des
Zusammenlebens gewagt habe, hielt ich es mit Larry am längsten aus –, amüsierte
er sich gern über mich, indem er erzählte, wie »schockiert« ich von der Art und
Weise gewesen sei, mit der er mich in dem so geheimnisumwitterten schwulen
Kaffeehaus in Wien abgeschleppt hatte.
    Ich verbrachte mein drittes Collegejahr im Ausland. Zwei Jahre
Deutschstudium auf Collegeniveau – plus der Deutschunterricht an der Favorite
River Academy – hatten mich auf ein Jahr in einem deutschsprachigen Land
vorbereitet. Dank der zwei Collegejahre in New York City war ich irgendwie
schon, dann aber auch wieder nicht darauf vorbereitet, wie subkulturell ein schwules Kaffeehaus in Wien 1963/64 tatsächlich war. Zu jener
Zeit wurden die Schwulenbars in New York gerade geschlossen; 1964 fand dort die
Weltausstellung statt, und der New Yorker Bürgermeister war wild entschlossen,
die Stadt für die Touristen zu säubern. Eine Bar in New York, Julius’, blieb
die ganze Zeit geöffnet – vielleicht war es gar nicht die einzige –, aber
selbst im Julius’ durften sich die Männer an der Bar nicht anfassen.
    Ich behaupte nicht, in Wien habe es zu der Zeit eine [194]  ausgeprägtere
Schwulenszene als in New York gegeben; die Situation war aber durchaus
vergleichbar. Doch dort, wo Larry mich abschleppte, fassten die Männer einander
ein wenig an – ob erlaubt oder nicht. Ich weiß nur noch, dass Larry der
Kulturschock für mich war, nicht Wien.
    »Bist du ein aktiver oder ein passiver Partner, schöner Bill?«,
fragte er mich. (Ich war schockiert, aber nicht von der Frage an sich.)
    »Aktiv«, antwortete ich spontan.
    »Ach wirklich!«, sagte Larry, mit entweder aufrichtiger oder
gespielter Überraschung; bei Larry ließ sich das selten gut auseinanderhalten.
»Für mich siehst du wie ein passiver aus«, sagte er, doch nach einer Pause, die
so lang war, dass ich schon dachte, er würde einen anderen zum Mitgehen
auffordern, ergänzte er: »Komm schon, Bill, gehen wir.«
    Stimmt, ich war schockiert, aber nur, weil ich ein Collegestudent
war und Larry mein Professor. Wir waren am Institut für Europäische Studien in
Wien – »das Institut«, wie die Studenten es nannten. Wir Studenten kamen aus
den ganzen USA , aber unsere Dozenten aus der
ganzen Welt: ein paar Amerikaner (Larry war der bei weitem bekannteste unter
ihnen), ein wundervoll exzentrischer Engländer und diverse Österreicher, die an
der Wiener Universität lehrten.
    Damals lag das Institut für Europäische Studien an dem zum
Doktor-Karl-Lueger-Platz und Stubenring hin gelegenen Ende der Wollzeile. Die
Studenten

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