In einer Person
klagten über die große Entfernung zur Universität; viele von uns
(diejenigen, die besser Deutsch konnten) besuchten auch dort Seminare. Ich
nicht; an noch mehr Unterricht war ich nicht [195] interessiert. Ich war in New
York aufs College gegangen, weil ich in New York sein wollte; mein Auslandjahr
verbrachte ich in Wien, weil ich in Wien sein wollte. Die Entfernung zur
Universität war mir egal.
Mein Deutsch reichte für einen Job in einem Nobelrestaurant an der
Weihburggasse – am anderen Ende der Kärntnerstraße, von der Staatsoper aus gesehen.
Es hieß Zufall, und ich bekam die Stelle, weil ich zuvor als Kellner in New
York gearbeitet hatte und weil ich kurz nach meiner Ankunft in Wien erfuhr,
dass man dem einzigen englischsprachigen Kellner im Zufall gekündigt hatte.
Das hatte ich in jenem geheimnisumwitterten schwulen Kaffeehaus an
der Dorotheergasse gehört – eine der Seitenstraßen des Graben. Es hieß Café
Käfig. Tagsüber schien es hauptsächlich von Studenten besucht zu sein, auch
Studentinnen – eine von ihnen hatte mir tagsüber erzählt, dass der Kellner im
Zufall gefeuert worden war. Aber nach Einbruch der Dunkelheit tauchten dann
ältere Männer im Café Käfig auf, und die Frauen verzogen sich. So auch an dem
Abend, als ich Larry traf und er mir die Aktiv-oder-Passiv-Frage stellte.
In diesem ersten Herbsttrimester am Institut studierte ich nicht bei
Larry. Er dozierte über die Tragödien von Sophokles. Larry war Lyriker, und ich
wollte Romanautor werden – ich dachte, mit dem Theater wäre ich fertig, und ich
schrieb keine Gedichte. Aber ich wusste, dass Larry ein angesehener Autor war,
und hatte ihn gefragt, ob er sich vorstellen könnte, ein Schreibseminar
anzubieten – im Winter- oder im Frühjahrstrimester 1963/64.
»O Gott – bloß kein kreatives Schreiben!«, hatte Larry [196] gesagt.
»Ich weiß – sagen Sie nichts. Eines Tages wird man überall kreatives Schreiben unterrichten!«
»Ich hab nur nach einer Gelegenheit gesucht, einem anderen
Schriftsteller meine Sachen zeigen zu können«, sagte ich ihm. »Ich bin kein
Dichter«, gab ich zu, »sondern Prosaschriftsteller. Ich kann verstehen, wenn
Sie das nicht interessiert.« Ich wollte schon weggehen – sichtlich bemüht,
gekränkt dreinzuschauen –, als er mich aufhielt.
»Warten Sie, warten Sie – wie heißen Sie, junger Prosa schriftsteller?«,
fragte Larry. »Immerhin lese ich Prosa«, erklärte er
mir.
Ich sagte ihm meinen Namen – und zwar »Bill«, weil der Name William Miss Frost gehörte. (Meine Romane sollte ich unter
dem Namen William Abbott veröffentlichen, aber von niemand sonst ließ ich mich
William nennen.)
»Also, Bill – geben Sie mir Bedenkzeit«, sagte Larry. Da wusste ich,
dass er schwul war und alles, was er sonst noch dachte. Studieren sollte ich
aber erst im Januar 1964 bei ihm, als er im Wintertrimester am Institut ein
Seminar in Kreativem Schreiben anbot.
Larry war der bereits renommierte Dichter – Lawrence Upton für seine Kollegen und Studenten, aber seine schwulen Freunde (und eine
Entourage aus lauter Verehrerinnen) nannten ihn Larry. Damals war ich schon mit
ein paar älteren Männern zusammen gewesen – ich hatte nicht mit ihnen
zusammengewohnt, sondern nur mit ihnen geschlafen – und wusste, wer ich war,
wenn es um aktiv oder passiv ging.
Nicht das Vulgäre an Larrys Aktiv-oder-Passiv-Frage schockierte
mich; selbst seine neuen Studenten wussten, dass Lawrence Upton ein
berüchtigter Snob war und [197] überdies sehr direkt sein konnte. Nein, mich
schockierte, dass mein Dozent, eine literarische Größe, mich angesprochen
hatte. Aber Larry erzählte die Geschichte immer ganz anders, und er duldete
keinen Widerspruch.
Laut Larry hatte er mich nicht gefragt, ob
ich der aktive oder der passive Part war. »In den sechziger Jahren, lieber
Bill, sagten wir nicht ›aktiv‹ und ›passiv‹ – wir haben ›Werfer‹ und ›Fänger‹
gesagt, obwohl junge Männer aus Vermont natürlich so
hellsichtig gewesen sein könnten«, sagte Larry, »oder uns allen anderen so weit
voraus, dass du schon gefragt hast: ›Plus oder minus?‹, während wir nicht ganz
so progressiven Typen uns noch mit der Werfer-oder-Fänger-Frage begnügen
mussten, die bald darauf zur Aktiv-oder-Passiv-Frage werden sollte. Nur noch nicht in den Sechzigern, lieber Bill. Als ich dich in Wien
angequatscht habe, weiß ich, dass ich dich fragte, ob
du ein Werfer oder ein Fänger bist.«
An diesem Punkt wandte
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