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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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»diese schreckliche Frau«
am besten über ihre Wirkung auf meine Freundin Elaine – so wie ich mich am
besten über meine anhaltenden Schwärmereien für die Falschen kenne und wie ich
dadurch geformt wurde, dass ich meine innersten Wünsche vor den Menschen, die
ich liebte, geheim hielt.

[283]  7
    Meine schrecklichen Engel
    Wenn eine ungewollte Schwangerschaft der »Abgrund« war, in
den ein wagemutiges Mädchen fallen konnte – das Wort Abgrund stammte von meiner Mutter, obwohl sie es garantiert ihrerseits von dieser
blöden Muriel hatte –, so erwartete einen Jungen wie mich fraglos dann der
Abgrund, wenn er sich homosexuellen Aktivitäten hingab. Eine solche Liebe war
damals der schiere Wahnsinn; wenn ich meine kühnsten Phantasien ausleben würde,
musste ich damit rechnen, in einen bodenlosen Abgrund sexueller Begierden zu
stürzen. Das jedenfalls glaubte ich zu Anfang meines letzten Schuljahrs auf der
Favorite River Academy, als ich mich wieder einmal in die Stadtbücherei von
First Sister wagte – diesmal, um mich zu retten. Ich war achtzehn, und meine
sexuellen Beklemmungen waren grenzenlos, mein Selbsthass gewaltig.
    Wer wie ich im Herbst 1960 auf einem reinen Jungeninternat war, der
fühlte sich restlos allein – man traute niemandem, am allerwenigsten
gleichaltrigen Mitschülern, und hasste sich selbst ohne Ende. Einsam war ich
immer schon gewesen, doch Selbsthass ist schlimmer als Einsamkeit.
    Während Elaine in Northfield ein neues Leben anfing, verbrachte ich
immer mehr Zeit im Jahrbuchraum der [284]  Schulbibliothek. Wenn meine Mutter oder
Richard mich fragten, wohin ich ging, antwortete ich immer: »In die
Bibliothek.« Welche, sagte ich ihnen nicht. Und ohne
Elaine, die mich gebremst hatte – sie konnte nie widerstehen, mir diese
knackigen Jungs in den neueren Jahrbüchern zu zeigen –, arbeitete ich mich
immer rasanter durch die Abschlussjahrgänge einer immer näher rückenden Vergangenheit
vor. Der Erste Weltkrieg lag längst hinter mir; meinem selbstgesetzten Zeitplan
war ich weit voraus. Wenn ich mit den Jahrbüchern in diesem Tempo weitermachte,
würde ich lange vor Frühjahr 1961 und meinem eigenen Schulabschluss an der
Favorite River in der Gegenwart landen.
    Tatsächlich lag ich bloß noch um dreißig Jahre zurück; an ebenjenem
Septemberabend, an dem ich beschloss, die Schulbibliothek zu verlassen und Miss
Frost aufzusuchen, hatte ich mit der Durchsicht des Buches für den Abschlussjahrgang
1931 begonnen. Der Anblick eines absolut atemberaubenden Jungen auf dem Foto
der Ringermannschaft hatte mich dazu veranlasst, das Jahrbuch jäh zuzuschlagen.
Ich sagte mir: Ich darf einfach nicht mehr an Kittredge und Jungs wie ihn
denken; solchen Gefühlen darf ich nicht nachgeben, sonst bin ich dem Untergang
geweiht.
    Was genau hielt meinen Untergang auf? Meine selbstgebastelte
Wichsvorlage mit Martha Hadley als Mannequin für Versandhauskatalog-Teenager- BH s funktionierte nicht mehr. Es wurde immer mühsamer,
zu einer noch so phantasievollen Umpfropfung von Marthas Hadleys schlichtem
Gesicht auf das flachbrüstigste dieser knabenhaften jungen Mädchen zu
onanieren. Kittredge (und Jungs wie ihn) [285]  konnte ich mir nur noch mittels
feuriger Phantasien mit Miss Frost in der Hauptrolle vom Leib halten.
    Das Jahrbuch der Favorite River Academy hieß Die
Eule. (»Die das wissen, müssen alle tot sein«, hatte Richard Abbott
geantwortet, als ich ihn gefragt hatte, warum.) Ich schob die 1931er Eule von mir weg, raffte Hefte und Deutschhausaufgaben
zusammen und stopfte alles außer der Eule in meine
Schultasche.
    Ich nahm an Deutsch IV teil, obwohl es
kein Pflichtkurs war. Kittredge half ich noch mit Deutsch III , das er wiederholen musste, weil er es nicht
bestanden hatte. Es war etwas einfacher, ihm zu helfen, seit wir nicht mehr
zusammen in Deutsch III saßen. Im Grunde ersparte
ich ihm nur ein bisschen Zeit. Das Schwere an Deutsch III war die Einführung in Goethe und Rilke; in Deutsch IV kam mehr von den beiden dran. Wenn Kittredge mit einem Absatz nicht
weiterwusste, ersparte es ihm Zeit, sich von mir mit einer schnellen und
einfachen Übersetzung aushelfen zu lassen. Dass dieselben Goethe- und Rilke-Zitate Kittredge im zweiten Durchgang genauso ratlos machten,
brachte ihn auf die Palme, aber für mich waren die Zettel und kurzen
Bemerkungen, die jetzt zwischen uns hin- und herwanderten, deutlich besser
auszuhalten als unsere früheren Gespräche. Ich versuchte ihn so weit wie
möglich

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