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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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auf Abstand zu halten.
    Deswegen verzichtete ich zu Richards wiederholt geäußerter
Enttäuschung darauf, im Herbst-Shakespeare mitzuspielen. Richard hatte den
Edgar in König Lear mit Kittredge besetzt. Als ich
Mrs. Hadley erzählte, dass ich in dem Stück nicht mitspielen wollte, weil
Kittredge »eine [286]  Heldenrolle« hatte – ganz zu schweigen davon, dass Edgar
später als armer Tom verkleidet auftritt, so dass Kittredge im Grunde eine
»Doppelrolle« bekommen hatte –, wollte Martha Hadley wissen, wie gründlich ich
mir meinen Text angesehen hätte. Ob ich bei meiner stetig wachsenden Liste
unaussprechlicher Wörter annähme, dass mich der Narr vor irgendwelche
Ausspracheprobleme stellen würde? Wollte Mrs. Hadley mir damit zu verstehen
geben, dass meine Sprachhemmungen mir einen Fluchtweg aus dem Stück eröffneten?
    »Worauf wollen Sie hinaus?«, stellte ich sie zur Rede. »Glauben Sie,
ich käme mit ›Lästrung‹ und ›Wuchrer ¨ nicht zurecht, oder ich würde
über ›Hosenlatz ¨ stolpern – bloß wegen des Dingsbums, das der Hosenlatz bedeckt, oder weil mir das Wort für das Dingsbums an sich schwerfällt?«
    »Nicht in die Defensive gehen, Billy«, sagte Mrs. Hadley.
    »Oder stellen Sie sich vor, ich könnte über das Wortpaar ›arge Hur ¨ straucheln?«, fragte ich sie. »Oder über die ›Madame Schoßhündin ¨ – in welcher Deklination auch immer?«
    »Beruhige dich, Billy«, sagte Mrs. Hadley. »Kittredge ist für uns
beide ein rotes Tuch.«
    »Kittredge hatte schon in Was ihr wollt das Schlusswort!«, rief ich. »Jetzt gibt Richard ihm schon wieder das
Schlusswort! Wir müssen uns anhören, wie Kittredge sagt: ›Lasst uns, der trüben
Zeit gehorchend, klagen, / Nicht, was sich ziemt, nur, was wir fühlen, sagen. ¨ «
    »Dem Ältsten war das schwerste Los gegeben«, fährt
Kittredge-als-Edgar fort.
    Bezogen auf König Lear – bedenkt man, was
Lear [287]  zustößt, von der Blendung Gloucesters ganz zu schweigen –, ist das
zweifellos richtig. Doch die Worte, mit denen Edgar das Stück beendet: »Wir
Jüngern werden nie so viel erleben« –, kamen mir damals nicht gerade allgemeingültig vor.
    Zweifelte ich die weisen Schlussworte des Dramas an, weil ich Edgar
und Kittredge nicht auseinanderhalten konnte? Kann irgendwer (selbst Shakespeare) wissen, wie schwer das Los unserer Nachkommen sein wird?
    »Richard hat zum Besten der Inszenierung entschieden, Billy«, sagte
Martha Hadley. »Es geht ihm nicht darum, Kittredge dafür zu belohnen, dass er
Elaine verführt hat.« Und doch hatte ich irgendwie genau diesen Eindruck. Warum
bekam Kittredge eine so wichtige Rolle wie die des Edgar, der später als der
arme Tom verkleidet auftritt? Warum musste Richard nach allem, was bei den
Proben zu Was ihr wollt passiert war, Kittredge in König Lear überhaupt eine Rolle
geben? Ich wollte da nicht mitmachen – ganz gleich, ob als Lears Narr oder
sonst wer.
    »Sag Richard einfach, dass du nicht in der Nähe von Kittredge sein
möchtest, Billy«, riet mir Mrs. Hadley. »Das versteht er bestimmt.«
    Ich konnte Martha Hadley nicht sagen, dass ich auch nicht in der
Nähe von Richard sein wollte. Und welchen Sinn hatte es, bei dieser König-Lear -Inszenierung die Mimik meiner Mutter zu
beobachten, während sie ihren Vater als Frau auf der Bühne sah? Grandpa Harry
hatte die Rolle der Goneril, Lears ältester Tochter; Goneril ist eine derart
abscheuliche Tochter, dass meine Mutter doch wohl jeden, der sie spielte, extrem missbilligend ansehen würde (Tante Muriel war die
Regan, Lears andere widerwärtige Tochter; [288]  ich zweifelte nicht daran, dass
meine Mutter auch ihrer Schwester finstere Blicke zuwerfen würde.)
    Nicht nur wegen Kittredge wollte ich mit diesem König
Lear nichts zu tun haben. Mir fehlte auch der Nerv, mit ansehen zu
müssen, wie Onkel Bob als »Typ Hauptdarsteller« scheiterte, denn der gutmütige
Bob – Squashball-Bob, wie Kittredge ihn nannte – sollte den Lear spielen. Dass
Bob das Tragische abging, konnte (außer vielleicht Richard Abbott) jeder sehen;
vielleicht tat Bob Richard leid, und er fand ihn
tragisch, weil Bob (tragischerweise) mit Muriel verheiratet war.
    Bobs Körper passte nun mal einfach nicht zum Lear – oder war es sein
Kopf? Bob war groß und athletisch, mit einem verhältnismäßig zu kleinen und zu
runden Kopf – wie ein Squashball zwischen zwei Schulterbergen. Onkel Bob war
nicht nur zu gutmütig, sondern auch zu muskelbepackt für einen

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