In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)
Ihrem Klienten diesen Brief. Ich hoffe, die Geschworenen hören auf ihr Herz.
Angus erwachte aus dem Nickerchen, das er auf Allies Wohnzimmersofa absolviert hatte. Irgendwann während des zweiten Viertels war er eingeschlafen, und nun hatte er die ganze erste Halbzeit verpaßt. Er blinzelte zum Fernseher hin und versuchte, sich ins Gedächtnis zu rufen, welche College-Teams eigentlich spielten.
Ellen MacDonald kam mit einer Kasserolle voller Yamswurzeln aus der Küche. »Na so was«, sagte sie mit einem Blick auf Angus. »Und wir dachten schon, du bist tot.«
»Immer langsam«, grinste er. »Ihr braucht mich noch nich aufzugeben.«
Er rubbelte sein Gesicht, stand auf und machte sich auf den Weg in die Küche. Allie kam gerade heraus, mit einem Truthahn beladen, der halb so groß schien wie sie selbst. »Vorsicht!« rief sie, während der Dampf vor ihrem Gesicht hin und her wehte wie ein Vorhang im Wind.
Angus setzte sich auf seinen Platz – der eigentlich Cams Platz war, doch Cam arbeitete an diesem Thanksgiving, so wie jedes Thanksgiving seit acht Jahren. Es war ein fairer Handel; auf diese Weise stellte er sicher, daß er an Weihnachten frei hatte. Aus für Angus unerfindlichen Gründen bestand Allie jedes Jahr darauf, ein Thanksgiving-Essen zu veranstalten, zu dem sie Cams gesamte Familie einlud. Angus hätte es passender gefunden, wenn sie eingeladen worden wäre, da schließlich sie das Haus allein hüten mußte.
Aber wahrscheinlich war es besser, wenn er einfach seinen Mund hielt und es sich schmecken ließ.
Allie beugte sich über Angus' Schulter und zupfte eine knallorange Blume in dem Gesteck zurecht, das sie gemacht hatte. Es war ein ausgehöhlter Kürbis, den sie mit Steckschaum gefüllt und mit einer Kombination von Strohblumen, Blütenspindeln, Schneebeeren und chinesischen Lampions bestückt hatte. In einer Minute wäre auch der Rosenkohl fertig; Salat und Füllung standen bereits auf dem Tisch. »Jamie«, rief sie. »Essen!«
Lustlos kam er an den Tisch und setzte sich auf den Stuhl neben Angus. »Was meinst du?« fragte er. »Ob man im Gefängnis zu Thanksgiving auch Truthahn kriegt?«
»Wenn du wills«, antwortete Angus. »Ich glaub schon. Wenn ich mich recht erinner …«
»Stop«, schnitt ihm Allie das Wort ab. »Das ist kein Gesprächsthema für einen Festtag.«
»Aber andererseits«, wandte Jamie ein, »bin ich auch kein festlicher Gast.«
Ellen streckte die Hand über den Tisch und klatschte einen Löffel Yamswurzeln auf Jamies Teller. »Iß«, forderte sie ihn auf.
Allie wanderte um den Tisch und schenkte jedem Weißwein ein. Als sie Angus ausließ, zupfte er sie am Pullover. »Und was is mit mir?«
»Du hast Traubensaft. Du darfst keinen Alkohol trinken, wegen deiner Herzmedikamente.«
»Ich hätt lieber die Pillen weggelassen«, brummelte er.
Sie stellte die Weinkaraffe neben dem Truthahn ab und erhob ihr Glas. »So«, sagte sie und lächelte dabei in die Runde, »auch in Cams Namen möchte ich euch danken, daß ihr dieses Jahr wieder an Thanksgiving zu uns kommen konntet. Und unsere Gedanken gelten all denen, die – die in diesem Jahr nicht bei uns sein können.« Sie drehte sich zu Jamie um. »Ich habe mir gedacht, daß du vielleicht den Truthahn anschneiden möchtest«, sagte sie.
Jamie nahm das sterlingsilberne Tranchierbesteck, das Allie ihm hinhielt. Er hörte die Soße auf dem Küchenherd blubbern, das Geplauder am Tisch und das Lärmen der Sportreporter im Fernseher. Sein Blick fiel auf den Truthahn, dem Allie aus ernährungsphysiologischen Gründen bereits die Haut abgezogen hatte, auf die weiße Brust unter seiner ausgestreckten Hand. Er ließ die Gabel fallen und senkte die Finger auf die Wölbung, weil er plötzlich an Maggies Haut, Maggies Hals denken mußte. Dann ließ er auch das Messer fallen und stürmte die Treppe hinauf.
Allie fand ihn auf dem Badewannenrand sitzend, wo sie neben ihm Platz nahm. Sie faßte nach seiner Hand und drückte etwas Fettiges, Glitschiges hinein. Er machte die Augen auf und entdeckte das Gabelbein des Truthahns. »Ellen hat den Truthahn angeschnitten«, erklärte sie. »Aber ich dachte, vielleicht möchtest du gern mit mir den Wunschknochen brechen.«
Plötzlich fühlte er sich besser als seit Wochen. Sie hatte es wirklich drauf, diese kleine angeheiratete Verwandte! »Das habe ich mit Maggie auch immer gemacht, obwohl sie Vegetarierin war«, erinnerte er sich. »Aber wir haben uns dabei gemeinsam etwas gewünscht. Sie glaubte,
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