In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)
Kinderpopo niederfuhr, jedesmal scheinbar vor ihm in den Himmel wuchs. Jahre hatte er gebraucht, um zu begreifen, daß das nur eine Frage der Perspektive war: Er duckte sich unter ihrem Zorn.
Cam zwang sich, aufrecht stehen zu bleiben, so daß er seine Mutter überragte. Sie schaute zu ihm auf, und einen Moment lang hatte er nicht den Mut, ihr in die Augen zu sehen. Doch als er schließlich auf sie hinabblickte, sah sie ihn keineswegs zornig an. Ihr Blick war weich und schlehendunkel wie der Grund des Meeres. Ich habe sie wegen ihrer Augen geheiratet, hatte Ian MacDonald gern gesagt. Bin, verdammt noch mal, kopfüber in ihre Augen gefallen und hab' einfach nicht mehr rausgefunden.
»Ich verstehe dich nicht«, flüsterte sie. Dann ging sie hinaus und ließ zwischen ihnen das schwach glühende Bild von Cams Vater stehen, die Erinnerung daran, wie sich seine Eltern hinter der halb geschlossenen Speisekammertür geküßt hatten, und die Frage, wieso etwas, das sich so unglaublich richtig anfühlte, so eindeutig falsch sein konnte.
In seiner Linken hielt Graham den Zeitschriftenartikel, der ihn den ganzen beschissenen Weg nach Boston geführt hatte, um den Psychiater Dr. Harrison Harding zu konsultieren. In seiner Rechten hielt er den Umschlag mit dem Befund des staatlich beauftragten Psychologen nach seiner abgebrochenen Sitzung mit Jamie: Mr. MacDonald lieferte während der Untersuchung keine klinischen Hinweise, die auf eine wie auch immer geartete Psychopathologie hindeuten. Er zeigte keinerlei Anzeichen einer Psychose, einer Neurose oder einer auffälligen Persönlichkeit. Seine Reaktionen waren der Situation angemessen, seine Antworten intelligent und vernünftig. Was die juristische Beurteilung seiner Tat betrifft, besteht kein Zweifel daran, daß er um deren Wesen und Wirkung Bescheid wußte.
Jamie saß neben Graham und trippelte nervös mit den Füßen auf den Boden. Aus purer Verzweiflung hatte er sich einverstanden erklärt, ein ganzes Arsenal an Tests zu absolvieren: Rorschach, IQ, WAIS, graphische Projektionen. Dennoch hatte er die dreistündige Fahrt damit zugebracht, Graham zu erklären, daß er nicht verrückt sei und daß ihn darum auch kein Psychiater für verrückt erklären könne. Er war der festen Meinung, daß Dr. Harding nicht anders wäre als dieses Arschloch, zu dem ihn die Staatsanwältin geschickt hatte.
Graham sah das anders. »Wenn auch Harding nicht der Meinung ist, daß Sie verstört genug waren, um nicht mehr klar denken zu können«, sagte er, »dann müssen wir eben jemand anderen suchen.«
Aber insgeheim glaubte er, daß seine Suche in diesem edel ausgestatteten, spartanischen Büro ihr Ende fände. Dem Time- Artikel zufolge, an den sich Graham klammerte wie an einen Rettungsring, war Dr. Harrison Harding ein glühender Verfechter der Euthanasie. Nicht daß er seiner Überzeugung Taten folgen ließ; er war einfach eine Art wohlerzogener, soignierter Fürsprecher für die Beihilfe zum Suizid. Im Zusammenhang mit einem Bericht über den Sterbehelfer-Anwalt Kevorkian war auch er interviewt worden, womit der Reporter hatte zeigen wollen, daß mehr als nur ein gebildeter Wissenschaftler an die Tötung aus Mitleid glaubte.
Harding kam persönlich heraus. »Mr. MacPhee«, begrüßte er sie und streckte die Hand aus. Dann tastete er Jamie mit einem Blick ab. »Mr. MacDonald!«
Graham wandte sich an Jamie. »Bleiben Sie hier.« Er kam sich vor wie eine Mutter. »Ich will kurz mit ihm allein sprechen.«
Jamie grunzte, doch er setzte sich wieder und schlug eine Ausgabe der Zeitschrift Omni auf. Graham folgte dem Psychiater in dessen Allerheiligstes. Im Gegensatz zu dem kargen Warteraum wirkte diese Räumlichkeit warm und sonnendurchtränkt. Schüsseln mit Knabberzeug standen zur Stärkung für die nächste Sitzung auf kleinen Resopalwürfeln, die als Kaffeetischchen dienten. Dr. Harding setzte sich auf ein unförmiges Sofa und deutete auf ein gleichartiges ihm gegenüber. »Da haben Sie ja einen ziemlichen Fall«, leitete er höflich ein.
Als Graham angerufen hatte, um den Termin zu vereinbaren, hatte er sich mit Harding persönlich unterhalten und war dabei die Details durchgegangen. Jetzt schilderte er dem Doktor kurz Jamies Sicht der Ereignisse, die zu Maggies Tod geführt hatten, und welchen Eindruck er selbst von Jamie hatte. »Manchmal sieht man ihn an und denkt sich: Wie, zum Teufel, konnte er das nur tun? Und manchmal sieht man ihn an, und da bricht einem sein Anblick
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