In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)
einfach das Herz.« Graham verstummte, atmete tief durch, blickte auf den Psychiater und versuchte, an dessen Miene abzulesen, wie seine Worte aufgenommen worden waren.
Offenbar brachte man Psychiatern auf der Uni bei, sich niemals in die Karten schauen zu lassen. Harding ließ seinen Kopf auf den gefalteten Händen ruhen und schnaubte kurz. »Sie haben auf Unzurechnungsfähigkeit plädiert«, sagte er. »Warum nicht auf Euthanasie?«
Grahams Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. »Weil Amerika dafür noch nicht bereit ist, schon gar nicht in den Berkshires, wo die Hälfte der Jury aus Farmern bestehen wird, die nach acht Jahren von der Schule abgegangen sind, und aus Fabrikarbeitern, die sich vornehmlich damit beschäftigen, welchen Kreis man an welches Quadrat schmieden muß.«
»Mr. MacPhee«, erkundigte sich der Psychiater nun, »was bringt Sie zu mir?«
Graham schluckte. »Ich brauche Ihr Gutachten darüber, ob Jamie sich über das Wesen und die Wirkung seiner Tat im klaren war. Im wesentlichen, ob er begriff, welche Konsequenzen es haben würde, seine Frau zu ersticken, ob er wußte, daß es Unrecht war – diese Art Fragen.«
»Ich weiß nicht, ob ich meine Beurteilung Ihren juristischen Kriterien anpassen kann«, sagte Harding.
Graham spürte dunkle Röte auf seinem Gesicht brennen. Wäre er hier hereingestürmt und hätte erklärt, daß er sein Plädoyer geändert hätte, hätte Harrison Harding mit Sicherheit Saltos geschlagen, nur um mit dem Fall in Verbindung gebracht zu werden. »Sie haben gedacht, ich wollte mich von Ihnen beraten lassen, wie ich am besten auf Euthanasie plädieren kann«, faßte er zusammen.
Der Doktor nickte und seufzte dann. »Ich möchte Ihnen von mir selbst erzählen«, hub er an. »Meine Frau und meine dreijährige Tochter wurden von einem Heckenschützen niedergeschossen, der in Chicago in einem Kentucky Fried Chicken Amok gelaufen ist. Meine Tochter war sofort tot; meine Frau lag drei Jahre lang auf der Intensivstation, wurde über eine Nasensonde ernährt, mußte eine Windel tragen und schrumpfte immer weiter ein, bis sie nicht wiederzuerkennen war und ich nicht mehr ganz sicher sein konnte, ob sie tatsächlich noch derselbe Mensch war. Aus dieser Erfahrung rührt mein Bedürfnis, die Medizin mitkontrollieren zu dürfen.«
Graham setzte sich erregt gerade. »Sie haben sie nicht getötet!«
»Das bedeutet nicht, daß ich es nicht gern getan hätte. Oder daß ich anderen Menschen das Recht dazu verwehren würde.«
Der junge Anwalt pickte sich einen Reiskeks aus der Knabberschale auf dem Würfel und fuhr mit dem Finger die rauhe Kante nach. »Dann haben Sie bestimmt eine Menge mit Jamie zu bereden«, meinte er.
Einen langen Augenblick schwiegen beide. Schließlich erhob sich Dr. Harding und trat ans Fenster. »Ich kann Ihnen nichts versprechen und kann kein Urteil abgeben, ohne Mr. MacDonald gesehen zu haben«, hielt er sich bedeckt. »Andererseits sind da gewisse Dinge, die Sie vielleicht bedenken sollten. Impulsives Verhalten in der Vergangenheit zum Beispiel. Ist Mr. MacDonald ein Mensch, der spontan seinen Koffer packt und eben mal stand-by auf die Fidschi-Inseln fliegt? Oder würde er die Tickets eher sechs Monate im voraus kaufen, um einen besonders günstigen Preis aushandeln zu können? Und dann wäre da noch das psychologische Konzept der Regression, demzufolge der Geist in einer Periode extremer Belastung sich in einen kindlichen Zustand zurückentwickelt.«
Graham wühlte sein Notizbuch aus der Jackentasche und begann mitzuschreiben. »Es gibt eine Theorie, derzufolge Jamies Persönlichkeit möglicherweise so zerbrechlich war, daß er sich mental völlig an einen anderen Menschen binden mußte«, fuhr Harding fort. »Man bezeichnet das als Verschmelzungsphantasie. Dann hätte er nervenmäßig tatsächlich die gleichen Schmerzen gespürt, die seine Frau aushalten mußte. Indem er sie getötet hat, um ihrem Leiden ein Ende zu bereiten, wäre damit auch sein Leiden beendet.«
»Das trifft den Nagel wahrscheinlich auf den Kopf«, sagte Graham, »aber ich glaube nicht, daß wir vor Gericht damit durchkommen.«
Gedankenversunken drehte sich der Doktor um. »In extremen Fällen«, erklärte er langsam, »kann übermäßiger Streß zu einer psychotischen Episode führen. Denken Sie an die Vietnam-Veteranen, die mit PTSS heimgekehrt sind – einem Posttraumatischen Streßsyndrom. Manche von ihnen durchleben in regelmäßigen Abständen ihre früheren
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