In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)
fest.
Jamie warf ihr einen Blick zu. »Du auch.« Er beugte sich vor. »Und was schließen wir daraus?«
Sie wußte, daß sie losheulen würde, wenn sie nur noch dreißig Sekunden hier sitzen bliebe; aber sie wollte Jamie nicht mit ihren eigenen Problemen belasten. »Ich muß gehen«, sagte sie und stand auf.
»Erzähl es mir«, bat Jamie leise. »Es wäre schön, wenn ich zur Abwechslung mal nicht über mich selbst nachdenken müßte.«
Allie ließ sich wieder auf den harten Metallstuhl sinken. Ihr Rock blähte sich über ihren Fußknöcheln. »Also gut«, murmelte sie. Und begann zu reden.
Bald gab es kein Halten mehr. Jeder Satz zerrte in einer ununterbrochenen Folge den nächsten aus ihrem Herzen. Allie fing damit an, daß Cam eine Affäre gehabt hatte. Daß sie zu dumm gewesen war zu erkennen, daß er sie mit Mia betrog, ihrer Mitarbeiterin. Daß sie alles herausgefunden hatte, nachdem die beiden irgendwo ein romantisches, verschneites Wochenende miteinander verbracht hatten. Daß von Cam nichts als Lügen gekommen waren.
Sie erzählte Jamie von dem Flohmarkt und der Kassette und davon, wie sie nach Shelburne Falls getrampt war. Dann packte sie den Büffelcowboy und die grauenhafte Nacht im Motel aus. Trotz allem müsse sie nun idiotischerweise doch zurückkehren – aber wisse nicht, ob sie Cam das noch geben könne, was er sich wünschte.
»Und das wäre?« erkundigte Jamie sich.
Allie ließ ihren ganzen Atem raus. »Daß alles wieder beim alten ist … ich so bin wie vorher. Er, bevor er ihr begegnete …«
Jamie starrte Allie an, sah die Ringe unter ihren Augen und das nervöse Spiel ihrer Hände am Rocksaum. Natürlich hatte er Cams Aussage verfolgt, aber vor allem war ihm dabei aufgefallen, wohin Cam die ganze Zeit über seinen Blick richtete. Graham hatte Jamie erklärt, daß die meisten Zeugen der Anklage, vor allem die sogenannten Experten, Jamie komplett ignorieren und direkt zu Audra oder den Geschworenen hin sprechen würden. Cam hatte Jamie zwar ignoriert, aber sich statt dessen auf seine Frau konzentriert.
Jamie durchschaute diesen Blick. Bitte, hieß er, du bist alles, was ich habe.
Und ihm ging auf, daß Allie MacDonald etwas ganz Unwahrscheinliches fertigbekommen hatte – das Jamie nicht einmal dadurch gelungen war, daß er seiner Frau ihren letzten Wunsch erfüllte. Statt das zu tun, was Cam erwartete – zu weinen, vermutete Jamie, so wie immer weiterzumachen, ihn anzubetteln –, hatte Allie ihm den Boden unter den Füßen weggezogen. Die ganze Zeit über befand sich Jamie in dem Glauben, der Weg zu Maggies absoluter Liebe läge darin, alles zu tun, was sie verlangte, und so zu sein, wie sie es sich wünschte. Allie hatte ihm das Gegenteil bewiesen.
Dabei geschah das sicher nicht einmal mit Absicht. Sie hatte einfach das Gleichgewicht zwischen ihr und Cam verschoben. Ganz plötzlich hing sie nicht mehr an Cams Hemdzipfel, sondern er klammerte sich an alles, was Allie ihm zu überlassen bereit war.
»Vierzig-sechzig«, konstatierte er und betrachtete Allie mit frisch entdeckter Bewunderung. »Wer hätte das gedacht?«
Gleich nach der Mittagspause kehrte Cam in den Zeugenstand zurück, und Graham baute sich dicht vor ihm auf. Er kannte seine Aufgabe, die ihm zugegebenermaßen Freude bereitete. Man konnte einen Polizisten nicht in Mißkredit bringen, schon gar nicht einen Chief. Jeder Geschworene sah Cam als durch und durch braven Kerl, der gleich nach Gott und dem Präsidenten kam; als grundsoliden, hilfsbereiten Mitmenschen. Wenn er Cam bedrängte, würde das kein gutes Licht auf Graham werfen. Nicht den Hüter des Gesetzes galt es zu zerstören; er mußte das blinde Vertrauen der Geschworenen in ihn zerstören.
»Chief MacDonald«, hub Graham freundlich an, »gibt es viele Mordfälle in Wheelock?«
Cam schüttelte den Kopf. »Das ist mein erster.« Er lächelte. »Gott sei Dank!«
»Gab es in Ihrer Laufbahn jemals einen anderen Fall, in dem das Opfer unheilbar krank war?«
»Ich glaube nicht.«
»Sie glauben nicht?«
»Nein«, korrigierte Cam, »es gab keinen.«
Graham gab ein undefinierbares Geräusch von sich und stellte sich an die Geschworenenbank. »Würden Sie aufgrund Ihrer Erfahrung sagen, daß dieser Fall sich von anderen Morden unterscheidet?«
»In gewisser Hinsicht«, sagte Cam.
»Wie zum Beispiel?«
Cam verdrehte die Augen nach oben. »Also, in diesem Fall kannte der Täter das Opfer. Er …«
»Ja«, fiel ihm Graham ins Wort. »Allerdings. Und trifft
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