In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)
Stephanotis lugten zwischen Erika, Raute, Rosmarin, Efeu und Farn hervor. Und im Herzen jedes blassen, sahnefarbenen Straußes stand eine gewundene, blutrote Rose.
»O Mia«, hauchte Allie. »Die sind ja wunderschön!«
»Gefallen sie Ihnen wirklich?« Mia rang die Hände in ihrer Schürze. »Oder hatten Sie sich was anderes gewünscht?«
»Es ist mehr, als ich mir gewünscht habe.« Sie sah zu Mia auf, bemerkte das Floristenmoos, das unter ihren Fingernägeln haftete, und die unter den Schuhsohlen klebenden Blätter. »Mr. MacDonald wird begeistert sein.«
»Wenn Mr. MacDonald sie überhaupt zu sehen bekommt«, sagte Mia und senkte sofort den Blick. »Wahrscheinlich sitzt er bereits im Gefängnis, wenn die Beerdigung stattfindet.«
»Ach, so was würde Cam nicht tun«, meinte Allie leichthin.
»Cam?«
»Der Polizeichef. Er ist mein Mann.«
Mia dachte zurück an den frühen Nachmittag und an jenes Prachtexemplar, das mit einer solchen Urgewalt in den Laden gestürmt war, daß um sie herum die Luft zu summen begonnen hatte. Natürlich war er der Chief; er hatte die Sache mit Mr. MacDonald geregelt. Mia entging nicht, wie er den Arm um Allie legte, als sie sich bereiterklärte, bei der Toten zu bleiben. Er hatte sich zu ihr herabgebeugt und auf sie eingeredet; doch auf Mia hatte es so gewirkt, als würde er sich über Allie breiten, um sie zu beschützen.
»Mia«, sagte Allie jetzt. »Wo wohnen Sie eigentlich?«
Mia hatte den ganzen Tag lang immer wieder über diese Frage nachgedacht; tatsächlich erkundigte sie sich sogar im Wheelock Inn nach den Übernachtungspreisen. Denn ihre Ersparnisse würden rasch dahinschwinden, bis sie Allies Gehalt bekäme. Doch das Inn konnte aufgrund einer polizeilichen Verfügung keine Gäste aufnehmen, solange dort eine Morduntersuchung lief.
»Um ehrlich zu sein«, meinte Mia, »weiß ich es nicht genau.«
Allie blickte auf die Reihe der Grabgestecke. Höchstwahrscheinlich war es ihre Schuld, daß Mia keine Zeit gehabt hatte, eine Unterkunft zu finden. Sie dachte an Maggie MacDonald und begriff, daß sie auf gar keinen Fall auch nur eine Sekunde lang allein sein wollte. »Warum übernachten Sie nicht bei mir? Cam wird erst spät heimkommen, und ich würde mich über etwas Gesellschaft freuen.«
Mia lächelte. »Gerne.« Dann biß sie sich auf die Lippe. »Ich habe noch einen Kater in meinem Auto.«
Allie machte eine wegwerfende Geste. »Er kann unmöglich mehr zerstören, als Cam nicht schon kleingekriegt hat.« Sie schnappte sich einen Besen und begann, die abgeschnittenen Stengel zu einem Haufen zusammenzukehren, ganz konzentriert und mit an Brutalität grenzender Energie, damit ihre Gedanken nicht abschweiften. Immer und immer wieder rechte sie die sperrigen Stengelstücke über den Holzboden, bis das Schaben der Bambuspalmblätter wie Schreie in ihren Ohren gellte.
Sie hörte auf zu fegen, ließ den Unterarm auf dem Besenstiel ruhen und atmete tief durch, um nicht vor dieser Frau zusammenzubrechen, die sie kaum kannte.
»Wollen Sie darüber sprechen?« hörte sie Mias Stimme leise von hinten.
Allie schüttelte den Kopf, weil Tränen ihr die Kehle zuschnürten. »Ich weiß nicht, was mit mir los ist.« Sie versuchte zu lächeln. »Andauernd denke ich daran, wie sehr man einen Menschen lieben muß, um so etwas für ihn tun zu können.« Sie wischte sich die Augen an der Hemdschulter trocken. »Was für eine grauenvolle Vorstellung!«
»Vielleicht«, meinte Mia ruhig. »Vielleicht auch nicht.«
Mia Townsend glaubte an die Liebe, wirklich und wahrhaftig. Sie wußte, daß sie manche Menschen wie ein Blitzschlag treffen und sie zu Boden schleudern konnte, daß sie die Individuen wie mit Flammen verzehrte und ihnen den Atem raubte. Schließlich kannte sie das von ihren Eltern. Sie war inmitten ihrer alles verzehrenden Leidenschaft aufgewachsen, stets davon umgeben, doch nie in ihrem Zentrum. Wenn sie an ihre Kindheit dachte, tauchte immer das Bild vor ihr auf, wie sie im Schnee stand, die Nase gegen einen kleinen freien Fleck in einer vereisten Fensterscheibe gepreßt, und ihren Eltern beim Walzertanzen zuschaute. Sie sah die Kreise immer enger, näher und wärmer werden, bis ihre Mutter und ihr Vater schließlich miteinander verschmolzen.
Deshalb antwortete Mia, wenn man sie fragte, ob sie an die Liebe glaubte, augenblicklich mit ja – doch sich selbst rechnete sie nie zu den Betroffenen. Sie stellte sich die Liebe als chemische Reaktion vor und sah sich dabei
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