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In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)

In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)

Titel: In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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voraus zu bestimmen, wo der Krebs als nächstes auftauchen würde. Möglicherweise in einem anderen Gehirnlappen, was Anfälle zur Folge hätte. Vielleicht würde er die Atmung lähmen. Vielleicht würde sie eines Nachts einschlafen und nie wieder aufwachen.
    Ein paar Monate vor unserem elften Hochzeitstag fuhren wir nach Kanada. Zum Winterkarneval in Quebec. Wir tanzten und sangen auf der Straße, und in den letzten Stunden vor dem Morgen saßen wir vor den Eisskulpturen auf den Bänken und hielten uns gegenseitig warm. Maggie zog den Reißverschluß an meiner Jacke herunter, knöpfte mir das Hemd auf und legte ihre kalten Hände auf meine Brust. »Jamie «, sagte sie, »dieses Ding frißt mich von innen her auf Knochen, Brüste, Gehirn. Eines Tages werde ich an mir runtersehen und feststellen, daß nichts mehr übrig ist. «
    Ich hatte nicht darüber sprechen wollen; ich versuchte wegzuschauen. Aber direkt vor mir stand die Eisskulptur einer Frau mit allen Kurven und Linien und in ganzer Grazie, die Arme über den Kopf ausgestreckt nach den Ästen eines Baumes, den sie nie zu fassen bekommen würde. Ich starrte in die toten Augen der Skulptur, auf ihre lebensechte Form, die eine Lüge war – eine tote Hülle; man konnte durch sie hindurchsehen.
    Maggie zerrte an meinen Brusthaaren, bis der Schmerz mich zurückrief und ich sie ansah. »Jamie «, sagte sie. »Ich weiß, daß du mich liebst. Die Frage ist nur, wie sehr.«
    Als Jamie MacDonald mit seiner Schilderung, wie er Maggie getötet hatte, zum Ende gekommen war, kniete er auf dem Boden, mit verkrampften Händen und tränenüberströmtem Gesicht.
    »Hey«, sagte Cam, dessen Stimme in seinen Ohren belegt und fremd klang. »Hey, Jamie, ist schon gut!« Er griff verlegen nach unten, um Jamie an der Schulter zu berühren, doch statt dessen faßte Jamie nach oben und packte seine Hand. Instinktiv ließ Cam auch seine andere Hand sinken und umfaßte in stillem Zuspruch Jamies klammernde Hände.
    Es war zugleich jene Geste des Gehorsams, stellte Cam verblüfft fest, mit der sich vor zweihundert Jahren ein schottischer Clansman in den Schutz seines Chiefs begab.
    Der beeidigten freiwilligen Aussage von James MacDonald zufolge hatte seine Frau an Krebs im fortgeschrittenen Stadium gelitten und ihn gebeten, sie zu töten. Was weder die Kratzspuren auf seinem Gesicht noch die Tatsache erklärte, daß er, um die Tat zu begehen, in einen Ort gefahren war, in den er nie zuvor einen Fuß gesetzt hatte. Maggie hatte ihre Bitte nicht auf Video gesprochen oder sie etwa aufgeschrieben beziehungsweise notariell beglaubigen lassen, um zu beweisen, daß sie bei vollem Verstand war – Jamie sagte, sie habe ihren Tod nicht als Inszenierung, sondern als schlichten Liebesdienst gewollt.
    Letztendlich hatten sie nichts als Jamies Wort. Cams einzige Zeugin war tot. Man erwartete von ihm, daß er dem Geständnis von James MacDonald allein deswegen glaubte, weil er ein MacDonald war, ein Mitglied seines Clans.
    Bis auf damals, als er gegen seinen Willen nach Wheelock zurückgekehrt war, um seinem Vater im Amt des Chiefs der Polizei nachzufolgen, hatte Cam kaum einen Gedanken daran verschwendet, was es bedeutete, Oberhaupt des MacDonald-Clans aus Carrymuir zu sein – angeblich eine Ehre, eine Auszeichnung. Es bedeutete, daß er bei seiner Hochzeit mit Allie im vollen Highlander-Aufzug vor den Altar getreten war, in einem Kilt statt einem Frack und mit einem schneeflockigen Rüschenbesatz am Hemd statt einer Fliege um den Hals. Es war ein Anachronismus, ein hübsches Verbindungsglied zu ihrer Geschichte, und vielleicht fühlte er sich durch diesen Titel der Bevölkerung seiner Stadt gegenüber ein bißchen mehr verantwortlich als andere Polizeichefs; aber keinesfalls entband er ihn von irgendwelchen unangenehmen Aufgaben.
    Ganz bestimmt würde er keinen Mörder vom Haken lassen, nur weil der Mann sein Cousin war. Und das Gesetz zu beugen wäre unethisch. Wenn es überhaupt einen Grundsatz gab, nach dem Cameron MacDonald sein Leben ausrichtete, dann den, die Dinge so zu tun, wie es dem Gesetz entsprach. Schließlich prägte seine Stellung als Chief der Polizei und des Clans sein gesamtes Leben.
    Doch Jamie MacDonald war eigens nach Wheelock, Massachusetts, gekommen, um seine Frau zu töten; weil er die Tat an einem Ort begehen wollte, der unter der Rechtsprechung des Chiefs des MacDonald-Clans stand. Er erwartete keine Sonderbehandlung, doch er wußte, daß er sich darauf verlassen konnte,

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