In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)
Ende des Briefes gelangte und die von dem schweren Stift ins Papier gedrückten Spuren nachfuhr, als könnte er daraus entnehmen, wohin Mia verschwunden war, zitterte er am ganzen Körper. Ohne seinen Mantel anzuziehen, ohne ein Wort zu Hannah zu sagen, rannte er aus dem Büro. Er raste über die Straße zum Wheelock Inn, stürmte durch die Eingangstür und verlangte die Schlüssel zu Mias Zimmer. »Aber Chief …«, wollte der Portier einwenden, ehe Cam ihm mit erhobener Hand das Wort abschnitt.
Das Zimmer war leer. Es roch nicht nach ihr, sondern nach weißen, frischen Laken und Putzmittel. Die King-James-Bibel lag an ihrem gewohnten Platz auf dem Nachttisch, die Fernbedienung für den Fernseher halb auf der Ablage. Unter den großen Augen des in der Tür wartenden Pagen sank er auf die Knie.
Das kam nur davon, daß er sie aus seinen Gedanken verbannt hatte.
Einen abwegigen, irrationalen Augenblick spielte er mit dem Gedanken, in die Polizeistation zurückzurennen und das Buntglasgemälde zu zerschlagen, als hätte Mias Verschwinden mit der physischen Existenz dieser Scheibe zu tun und als könnte er durch diesen Akt Mia zurückholen.
Cam ließ sich auf die Bettkante sinken und zog seitlich die Knie an: In dieser Haltung hatte Mia drei Nächte lang auf dem Sofa in seinen Armen geschlafen. Er schloß die Augen und versuchte, die winzigen Erhebungen in der Matratze zu spüren, versuchte, sich dem anzuschmiegen, was vielleicht der Abdruck ihres Körpers auf dem Bett war oder auch nicht. Er tat so, als würde er genau dort liegen, wo sie gelegen hatte, und flüsterte sich das ein, bis er wirklich daran glaubte.
Schließlich setzte er sich auf und schwang die Beine über die Bettkante. Er richtete im Spiegel seine Krawatte und warf einen Blick zur Tür, doch der Page war verschwunden. Eilig verließ er das Hotel und überquerte die Straße, als hätte er alles unter Kontrolle. Dann öffnete er die Tür zum Revier.
Allie stand in seinem Büro, die in ein weißes Tuch gewickelte Glasscheibe unterm Arm. Aus ihrem Gesicht strahlte die Freude eines kleinen Kindes, das über ihm unverständliche Dinge noch in Staunen geraten konnte. »Cam«, sagte sie mit leuchtenden Augen, »ist das für mich?«
Sie hängte das Buntglasbild im Schlafzimmer auf, an einem schmiedeeisernen Haken, der einst einem üppigen Immergrün Halt geboten hatte. »Wunderschön«, sagte Allie andächtig. Sie saß im Schneidersitz neben ihm auf dem Bett, hielt ihr Colaglas in der Hand und balancierte ihren Teller auf dem Schoß. Sie hatte darauf bestanden, mit dem Abendessen auf ihn zu warten und es im Schlafzimmer zu servieren, damit sie ihr neues Geschenk betrachten konnte, während die Sonne hindurchleuchtete. »Ich muß wohl öfter wegfahren«, meinte sie.
Cam lächelte in sein Essen. Das Glasgemälde warf eine bunte Lichtpfütze auf die Tagesdecke, genau bis an seinen Fuß. Er zog ihn ein wenig zurück, doch die Farbpfütze wanderte ihm hinterher.
Nachdem sie in der Polizeistation das Glasbild ausgepackt hatte, hatte sie es gegen das helle Nachmittagslicht gehalten und es hin und her gewendet. Immer wieder machte sie neue Versuche, das Blau in dem Bild zu beschreiben – daß die helleren Stellen in jenem blassen Grünblau leuchteten, das man vor Augen hatte, wenn man an den Sommer dachte; daß die dunkleren Scherben sie an einen mondlosen Nachthimmel erinnerten. Schließlich gab sie es auf; die Farben in Worte zu fassen. Es gab Blautöne, die man einfach selbst sehen mußte, entschied sie, und genau darin lag die einmalige Schönheit.
Doch Cam wußte, daß sie sich irrte. Der hellere Blauton war die Farbe von Mias Augen, kurz bevor er sie küßte; der dunklere Ton war die Farbe von Mias Augen, wenn er sich wieder von ihr löste.
Die letzten Sonnenstrahlen brannten durch die Scheibe und ließen sie eigenartig trübe und matt zurück. »Ich werde das Bild immer anschauen«, verkündete Allie. »Vielleicht lasse ich es direkt in ein Fenster einsetzen.«
»Das ist eine Idee!« Cam nickte. Er schaufelte sich eine Gabel Kartoffeln in den Mund und versuchte zu schlucken. Natürlich verhielt er sich unmöglich – nachdem sie beinahe eine Woche weg gewesen war, hätte er sie eigentlich angeregt und interessiert über ihre Reise ausfragen sollen –, doch er konnte Mia einfach nicht aus seinen Gedanken verbannen. Er hatte Angst davor, so als würde er sie dadurch noch weiter wegtreiben, als sie es ohnehin schon war.
Doch er würde sie finden,
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