In Einer Zaertlichen Winternacht
ihm zu heikel. Langsam, damit sie ihre Fassung zurückgewinnen konnte,
blickte er hinunter auf seine Schüssel, tauchte den Löffel in den Eintopf und
begann zu essen.
»Und Clay,
diesem Freundchen, würde es nicht gefallen, wenn Sie als Gouvernante
arbeiteten?«, fragte er, nachdem etwas Zeit vergangen war.
Sie lachte
leise, wahrscheinlich, weil er ihren zweifellos mächtigen Bruder als
Freundchen bezeichnet hatte. »Wahrscheinlich nicht.«
»Weshalb?
Weil er glaubt, es wäre unter Ihrer Würde?« Wieder meinte er diese Frage nicht
verächtlich.
»Nein«,
entgegnete Juliana bitter. »Er glaubt, es wäre unter seiner Würde, und
er sorgt sich sowieso schon um meinen Ruf. Für Clay ist das Unterrichten von
anderer Leute Kinder – speziell indianischer Kinder – ungefähr so
schlimm wie das Servieren von Drinks in einem Saloon.«
Wieder
wartete Lincoln ab. Hier entwickelte sich etwas, und das musste man einfach
geschehen lassen.
»Es hat angefangen
zu schneien«, bemerkte Juliana mit einem wehmütigen Blick aus dem Fenster.
»Was werden
Sie also tun?«, fragte Lincoln. »Wenn Sie weiterreisen, meine ich.«
Sie
seufzte. Sah ihn an. »Ich weiß es nicht«, gestand sie.
»Ich
schätze, wir könnten heiraten«, sagte Lincoln.
Juliana
öffnete den Mund, schloss ihn dann wieder.
»Sie haben
ja gehört, was Fred Willand gestern im Gemischtwarenladen gesagt hat«, fuhr er
mit heiserer Stimme fort. »Ich suche seit über einem Jahr per Annonce eine
Haushälterin oder Gouvernante. Und da ich damit keinen Erfolg hatte, würde ich
mich nun auch mit einer Ehefrau zufrieden geben.«
Da musste
Juliana lachen. Ihre Augen glitzerten, und sie schlug die Hand vor den Mund, um
sich selbst zum Verstummen zu bringen.
»Ich meinte
nicht direkt ,zufrieden geben' ...«
»Doch, das
meinten sie«, widersprach sie und sah ihn freundlich an. »Sie haben Gracies
Mutter sehr geliebt, oder?«
»Ja«, gab
Lincoln zu.
»So sehr,
dass in Ihrem Herzen kein Platz für eine andere Frau ist«, vermutete Juliana. »Darum
würden Sie lieber eine Fremde heiraten, eine Frau, die auf eine Zeitungsanzeige
antwortet. Denn dann müssten Sie für diese Person keine Gefühle aufbringen.«
Was sie
sagte, klang nicht nach einem Vorwurf. Wahrscheinlich trafen ihn ihre Worte
nur so sehr, weil sie so sehr der Wahrheit entsprachen.
»Und diese
Person müsste keine Gefühle für mich aufbringen«, antwortete er.
»Aber Sie
erwarten von ihr, mit Ihnen das Bett zu teilen?«
»Früher
oder später schon. Das ist schließlich Teil des Ehelebens, nicht wahr?«
Juliana
stützte einen Ellbogen auf den Tisch und legte das Kinn in ihre Handfläche. Sie
hätten genauso gut über den Preis für Schweinefleisch diskutieren können, so
ruhig und sachlich war sie. »Vermutlich«, räumte sie ein.
Bevor sie
das Thema weiter vertiefen konnten, stürmten Tom und Joseph durch die Hintertür
herein, mit Schnee und breitem Grinsen im Gesicht.
»Das
Weihnachtsessen liegt vor der Tür«, sagte Tom. Dann, als sein Blick zwischen
Juliana und Lincoln hin und her wanderte, wurde er etwas ernster.
Joseph, der
viel zu jung und zu stolz auf seine Leistung war, merkte nicht, dass sie die
beiden bei etwas Wichtigem unterbrochen hatten. »Wir haben zwei Truthähne
geschossen«, verkündete er triumphierend. »Tom hat sie schon ausgenommen, aber
wir müssen sie noch rupfen und wahrscheinlich etwas Schrot aus dem
herauspicken, den ich geschossen habe.«
Seine
Lehrerin zuckte zusammen.
Doch
Lincoln lächelte, schob seinen Stuhl zurück und stand auf, um seine Schüssel in
die Spüle zu stellen.
»Nehmt euch
von dem Eintopf«, sagte er.
»Und dann
wirst du mir vorlesen«, meinte Juliana an Joseph gewandt.
Der Junge
zog ein langes Gesicht, lächelte aber gleich wieder. Eine Abmachung war eben
eine Abmachung.
»Nachdem
ich die Truthähne gerupft habe?«, fragte er.
»Nachdem du
die Truthähne gerupft hast«, gab Juliana mit einem liebevollen Seufzen nach. »Aber
du wirst diese armen toten Viecher nicht ins Haus schleppen, um das zu tun.«
Dieser
Befehl klang sehr nach einer Hausfrau, was Lincoln gut gefiel, auch wenn er es
nicht zeigte. Die Idee einer Heirat hatte sich in seinem Kopf genauso
eingenistet wie in Julianas, und das reichte zunächst einmal.
Joseph
grinste. »Wissen Sie noch, Miss Mitchell, wie Sie letzte Weihnachten versucht
haben, diesen Truthahn, den eine Farmersfrau uns geschenkt hat, zu braten und
dabei so viel Rauch entstanden ist, dass wir alle Türen und
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