In Einer Zaertlichen Winternacht
Fenster aufreißen
mussten?«
»Vielen
Dank, Joseph, dass du mich daran erinnerst.«
Tom
schmunzelte.
Der Schnee
fiel jetzt schneller und in dickeren Flocken. Im Schneegestöber entdeckte
Lincoln seinen Bruder Wes, der heraufgeritten kam, einen Packesel mit einem
riesigen Tannenbaum auf dem Rücken hinter sich herziehend.
»Ich fasse
es nicht«, murmelte er leise lachend, dann eilte er zur Hintertür, wo er kurz
stehen blieb, um seinen Mantel überzuwerfen.
Wes trug
keinen Hut, Schneeflocken hatten sich auf seinem braunen Haar gesammelt und
bedeckten seine Wimpern. Sein Grinsen war so weiß wie der zugeschneite Weg, und
selbst aus zehn Schritten Entfernung konnte Lincoln Whiskey und Zigarren in
seinem Atem riechen.
»Ma sagte,
sie würde mir das Fell über die Ohren ziehen, wenn Gracie keinen Christbaum
bekommt«, rief Wes fröhlich. »Und hier bin ich.«
Lachend
schüttelte Lincoln den Kopf. »Ist dir einmal in den Sinn gekommen, dass es
einen weiteren Schneesturm geben könnte und tiefe Nacht sein wird, bis du
zurück in der Stadt bist?«
»Ich habe
genug Alkohol intus, um ein Erfrieren auszuschließen«, antwortete Wes. Er
holte eine Flasche aus der Tasche seines verschlissenen Mantels und nahm den
Korken zwischen seine perfekten Zähne. »Genau genommen brauche ich aber erst
noch ein, zwei Schluck, bevor ich zurück nach Hause reite.«
Dann stieg
er ab, ging zu dem Esel und löste die Schnüre, mit denen der Christbaum
befestigt war. Der satte Duft von Tannennadeln erinnerte Lincoln an ihre
Kindheit. Sie waren zwar nicht dazu erzogen worden, an Santa Claus zu glauben,
aber überall im Haus waren frische grüne Zweige verteilt gewesen. Und am
Weihnachtsmorgen hatten ein paar bescheidene Geschenke für sie auf dem
Frühstückstisch gelegen.
»Willst du
da nur rumstehen«, brummte Wes, »oder hilfst du mir vielleicht, den Baum ins
Haus zu schaffen?«
»Er ist
noch zu nass«, sagte Lincoln und klang jetzt selbst wie eine Hausfrau. »Wir
bringen ihn erst mal in den Holzschuppen, damit er etwas trocknen kann.«
»Wie du
meinst, kleiner Bruder«, rief Wes umgänglich, dabei war er zehn Zentimeter
kleiner als Lincoln und nur zwei Jahre älter. »Als ich bei Fred Willand
vorbeigegangen bin, um zu sehen, ob es Post für dich gibt – es gibt keine –,
sagte er mir, dass du hier draußen eine Frau bei dir hättest. Die hübsche
Lehrerin aus der indianischen Schule.«
Bevor er
darauf antwortete, griff Lincoln nach dem ziemlich großen Baum. Ein Wunder,
dass der arme alte Esel nicht unter dem Gewicht zusammengebrochen war. Er würde
ein ganzes Stück absägen müssen, damit der Baum überhaupt ins Wohnzimmer
passte. »Fred Willand«, sagte er schließlich durch die Zweige hindurch, »klatscht
wie ein altes Waschweib.«
Wes lachte.
»Zum Teufel«, rief er. »Ohne Fred wüsste ich gar nicht, wie es dir geht. Du
kommst ja nie im Saloon oder der Zeitungsredaktion für ein kleines Schwätzchen
vorbei.«
»Ich habe
keine Zeit für kleine Schwätzchen«, erklärte Lincoln. Obwohl er wegen Wes'
Unfähigkeit beinahe die Ranch verloren hätte, liebte er seinen Bruder. Nach
Dawsons Tod hatte der Vater seine Trauer an seinem zweiten Sohn ausgelassen,
während Lincoln, der Dawsons Platz als jüngster Sohn übernommen hatte, seinem
Vater möglichst aus dem Weg gegangen und dafür Tom Dancingstar überallhin
gefolgt war.
Wes sah
auf, sein Blick war jetzt ernst. »Ma ist fort«, sagte er. »Es ist ganz
friedlich, das kann ich sogar hier draußen spüren.«
Ihre Mutter
hielt nichts davon, dass Wes trank und rauchte und Poker spielte. Außerdem
hielt sie nichts von der Frau, die er liebte, was sie bei jeder sich bietenden
Gelegenheit sehr deutlich machte. Darum kam Wes nie zu Besuch, wenn seine
Mutter da war.
Lincoln
zerrte den riesigen Baum hinter sich her zum Holzschuppen. »Komm rein und iss
etwas von Toms Hirscheintopf«, rief er über seine Schulter. »Ist wahrscheinlich
schon Wochen her, dass du was Anständiges in den Magen bekommen hast.«
»Ich lasse
mir doch nicht die Gelegenheit entgehen, eine gut aussehende Frau unter die
Lupe zu nehmen.«
Als Lincoln
wieder aus dem Holzschuppen herauskam, sah er, dass Wes das Pferd und den Esel
einfach hatte stehen lassen. Er führte sie in den Stall, sattelte das Pferd ab
und gab beiden Futter und Wasser. Dann striegelte er sie so, wie er es zuvor
mit seinem eigenen Pferd gemacht hatte.
Er tat all
diese Dinge, die sein Bruder hätte tun sollen, aber es machte ihm nichts
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