In eisige Höhen
so was nicht passiert.«
Im vergangenen Jahr hatte eine amerikanische Expedition einen Sherpa namens Kami Rita als Küchenjungen angeheuert. Der kräftige, ehrgeizige Junge ließ mit seinen einundzwanzig, zweiundzwanzig Jahren nichts unversucht, in den höheren Berglagern als Klettersherpa arbeiten zu dürfen. Um zu zeigen, daß man seine Begeisterung und gute Arbeit zu schätzen wußte, wurde ihm ein paar Wochen später der Wunsch erfüllt – obwohl ihm jegliche Klettererfahrung fehlte und er niemals in klassischen Techniken unterrichtet worden war.
Zwischen 6700 und 7600 Metern führte die Standardroute einen steilen tückischen Eishang hoch, die sogenannte Lhotse-Flanke. Bei Expeditionen wird der Hang stets von unten bis oben mit einer Reihe von Seilen gesichert, in die sich die Bergsteiger beim Klettern einhaken. Kami, jung, forsch und unerfahren, fand, daß es nicht wirklich nötig war, sich einzuhaken. Als er dann eines Nachmittags eine Last die Lhotse-Flanke hinauftrug, verlor er auf dem steinharten Eis den Halt und fiel über sechshundert Meter tief bis auf den Grund der Steilwand.
Frank Fischbeck aus meinem Team war damals Zeuge des Vorfalls geworden. 1995 war er zum dritten Mal als Kunde zum Everest gereist, mit einem amerikanischen Bergführungsunternehmen, das Kami angeheuert hatte. Frank hatte sich gerade auf dem oberen Abschnitt der Lhotse-Flanke befunden und stieg an den Seilen hoch, »als ich«, wie er mit aufgewühlter Stimme sagte, »nach oben schaue und sehe, wie da jemand Hals über Kopf runtergestürzt kommt. Wie er so an mir vorbeigefallen ist, hat er geschrien wie am Spieß und eine lange Blutspur hinterlassen.«
Einige Bergsteiger eilten sofort zu der Stelle, an der Kami liegengeblieben war, aber da war er den schweren Verletzungen bereits erlegen, die er sich auf dem Weg nach unten zugezogen hatte. Man trug seine Leiche ins Basislager hinunter, und seine Freunde brachten Mahlzeiten, um den Leichnam drei Tage lang zu füttern, eine buddhistische Tradition. Anschließend wurde er in ein Dorf in der Nähe von Tengboche gebracht und eingeäschert. Kamis Mutter weinte untröstlich und schlug sich immer wieder mit einem spitzen Stein auf den Kopf, als der Leichnam von den Flammen verschlungen wurde.
Als Rob und Mike am 8. April beim ersten Tageslicht Richtung Basislager eilten, um Tenzing lebend vom Everest zu bergen, hatte Rob Kamis Schicksal unweigerlich im Hinterkopf.
KAPITEL FÜNF
Lobuje
8. April 1996
4.938 Meter
Wir zogen durch die zu allen Seiten hoch aufragenden Eissäulen von Phantom Alley und traten in ein von Felsblöcken übersätes Tal am Fuße eines riesigen Amphitheaters ein... [der Gletscherbruch] schlug an dieser Stelle einen scharfen Bogen, um als Khumbu-Gletscher nach Süden zu strömen. Wir schlugen unser Basislager bei
5425
Metern auf der Seitenmoräne am Schuttrand des Bogens auf. Riesige Felsblöcke gaben dem Ort etwas Kompaktes, Bruchfestes, aber das Geröll unter unseren Füßen belehrte uns eines Besseren. Alles, was wir sahen, fühlten und hörten – von dem Gletscherbruch, der Moräne, den Lawinen, der Kälte-, war Bestandteil einer Welt, die nicht für menschliche Besiedlung geschaffen war. Keine fließenden Gewässer, nichts
wuchs – wo man hinblickte, nichts als Zerstörung und Verfall ... Dies sollte in den nächsten paar Monaten unser Zuhause sein, bis der Berg erklommen war.
THOMAS F. HORNBEIN
Everest: The West Ridge
Am 8. April, kurz nach Einbruch der Dunkelheit, meldete sich plötzlich draußen vor der Herberge Andys tragbares Funkgerät mit einem Knistern. Es war Rob, der ihn vom Basislager aus mit einer guten Nachricht anrief. Zwar hatte es eines aus mehreren Expeditionen zusammengestellten Teams von fünfunddreißig Sherpas und eines ganzen Tages bedurft, aber sie hatten Tenzing runterbekommen. Sie hatten ihn auf einer Aluminiumleiter festgebunden und ihn dann je nach Gelände abseilen, tragen oder hinter sich herziehen müssen; letztlich jedoch war es ihnen gelungen, ihn durch den Gletscherbruch zu hieven, und er ruhte sich jetzt von den Strapazen im Basislager aus. Falls das Wetter weiter mitspielte, würde bei Sonnenaufgang ein Helikopter eintreffen und ihn ins Krankenhaus nach Katmandu fliegen. Hörbar erleichtert gab Rob uns grünes Licht, um Lobuje am nächsten Morgen zu verlassen und allein zum Basislager weiterzuziehen.
Auch wir, die zahlende Kundschaft, waren erleichtert, daß Tenzing geborgen werden konnte. Und wir waren nicht
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