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In eisige Höhen

Titel: In eisige Höhen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jon Krakauer
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weniger erleichtert, endlich aus Lobuje rauszukommen. John und Lou hatten sich inmitten all der unhygienischen Zustände irgendeine ansteckende Darmerkrankung geholt. Helen, unsere Basislagerleiterin, hatte zermürbende, durch die Höhenluft verursachte Kopfschmerzen, die nicht mehr weggehen wollten. Und mein Husten war nach der zweiten Nacht in der rußig-verrauchten Herberge noch schlimmer geworden.
    Deshalb sagte ich mir, daß es wohl besser wäre, diese Nacht unsere dritte in dem Dorf – dem erstickenden Qualm zu entfliehen und in das Zelt umzuziehen, das Rob und Mike zurückgelassen hatten, als sie zum Basislager aufgebrochen waren. Andy zog mit mir um. Um zwei Uhr nachts wachte ich auf, als Andy neben mir beinahe aufrecht im Bett saß und stöhnte. »He, Harold, Mann«, fragte ich aus den Tiefen meines Schlafsacks, »alles in Ordnung?«
    »Ich weiß nicht, um ehrlich zu sein. Irgendwas, was ich heute abend gegessen habe, scheint sich dort, wo es jetzt ist, nicht allzu wohl zu fühlen.« Einen Moment später riß Andy mit zitternden Händen den Reißverschluß am Zelteingang auf und schaffte es gerade noch, den Kopf nach draußen zu stecken, bevor er loskotzte. Nachdem das Würgen abgeklungen war, kauerte er mehrere Minuten lang auf allen vieren am Zelteingang. Dann sprang er plötzlich auf, flitzte ein paar Meter weiter, riß sich die Hose herunter und überließ sich einer geräuschvollen Diarrhöe-Attacke. Den Rest der Nacht verbrachte er draußen in der Eiseskälte und entlud unter heftigen Schmerzen seinen Magen-Darm-Trakt.
    Am Morgen war Andy schwach dehydriert und zitterte erbärmlich. Helen meinte, daß er vorerst besser in Lobuje bliebe, bis er wieder bei Kräften sei, aber Andy dachte nicht einmal dran. »Ich werde nicht einen Tag länger in diesem Scheiß-loch verbringen, kommt nicht in Frage«, verkündete er mit schmerzverzerrtem Gesicht, den Kopf zwischen den Beinen. »Ich gehe heute zum Basislager mit wie alle anderen auch, selbst wenn ich kriechen muß, verdammt noch mal!«
    Um neun Uhr hatten wir gepackt und waren unterwegs. Während der Rest des Teams im flotten Tempo den Pfad hochwanderte, blieben Helen und ich ein Stück zurück, um mit Andy zu gehen, dem jeder Schritt eine Qual war. Immer wieder blieb er stehen und krümmte sich ein paar Minuten lang über seine Skistöcke, um sich zu sammeln. Dann nahm er wieder all seine Kräfte zusammen und schleppte sich weiter.
    Die Route führte ein paar Meilen lang auf und ab über den losen Felsschutt der Seitenmoräne des Khumbu-Gletschers und fiel schließlich zu dem Gletscher selbst hinab. Das Eis war an vielen Stellen von Asche, grobem Kiesel oder Granitfelsblöcken bedeckt, aber ab und zu kreuzte der Pfad Stellen mit blankem Eis – eine durchsichtige, gefrorene Masse, die wie polierter Onyx schimmerte. Schmelzwasser ergoß sich ungestüm in zahllosen freiliegenden und unterirdischen Kanälen und verursachte ein gespenstisch melodisches Rumpeln, das wie in einem Klangkörper im ganzen Gletscher widerhallte.
    Am Nachmittag kamen wir an einer bizarren Gruppierung freistehender Eissäulen an – die größte war gut und gerne dreißig Meter hoch. Sie bildeten die sogenannte Phantom Alley. Die vom Sonnenlicht plastisch hervorgehobenen Säulen verströmten ein wie radioaktiv glühendes Türkis und ragten bis an den Horizont aus dem umgebenden Eisschutt heraus. Helen – die hier bereits zigmal durchgegangen war – verkündete, daß wir es nicht mehr weit hätten.
    Ein paar Meilen schlug der Gletscher einen scharfen Bogen nach Osten, und wir trotteten zum Kamm eines langgestreckten Hangs hinauf. Vor uns breitete sich eine kunterbunte Stadt aus kuppeiförmigen Nylon-Dächern aus. Mehr als dreihundert Zelte, in denen Bergsteiger und Sherpas aus vierzehn Expeditionen untergebracht waren, besprenkelten das mit Felsblökken durchsetzte Gletschereis. Wir brauchten zwanzig Minuten, bis wir in der wildwuchernden Siedlung unsere Lagerstätte ausfindig gemacht hatten. Als wir die letzte Anhöhe erklommen, kam Rob uns entgegengeschlendert, um uns zu begrüßen. »Willkommen im Basislager des Mount Everest«, sagte er grinsend. Der Höhenmesser meiner Armbanduhr zeigte 5 400 Meter an.
    Die improvisierte, dorfähnliche Anlage, die für die nächsten sechs Wochen unser Zuhause sein sollte, lag am vorderen Rand eines natürlichen Amphitheaters, das von den bedrohlich aufragenden Bergwänden gebildet wurde. Die Steilhänge über dem Lager waren mit überhängenden

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