In ewiger Nacht
als das reale Leben. Mit zusammengekniffenen Augen tauchte er ein in die Texte der russischen Klassiker und fühlte sich in diesem vertrauten Element wie ein Fisch im Wasser. Doch sobald er daraus auftauchte, benahm es ihm den Atem, nicht nur im übertragenen Sinn, sondern ganz direkt. Er bekam Asthmaanfälle.
Die Probleme in der Schule, die schwierigen Schüler, die Intrigen im Lehrerkollektiv, der Tod der Eltern, die Abreise des Sohnes nach Amerika, die Geldreform und die Krisen, das kleine Gehalt – all das berührte ihn nur oberflächlich. Bisdie eiserne Hand der Realität zuschlug und ihn zerquetschte wie eine Fliege.
»Boris, ich habe Krebs«, sagte Nadja eines Tages. »Hör mir genau zu und hilf mir, eine Entscheidung zu treffen. Variante eins, die traditionelle: Operation, Chemotherapie, das volle Programm. Das bedeutet im besten Fall anderthalb bis zwei Jahre Leben. Variante zwei: Alles lassen, wie es ist. Dann bin ich in fünf, sechs Monaten tot. Aber es wird ein leichter Tod sein. Die Schmerzen sind mit Medikamenten sehr gut zu behandeln.«
Gemeinsam entschieden sie sich dennoch für Variante eins, und das darauffolgende Jahr wurde ein qualvoller, nutzloser Kampf. Von der Chemotherapie fielen die Haare aus, und jede kleine Schramme brauchte Monate zum Verheilen, schwoll an und eiterte. Dann die Operation, nach der ein künstlicher Darmausgang gelegt wurde. Rodezki konnte bis zum letzten Monat nicht glauben, dass seine Nadja starb, und als es dann geschah, starb er gleichsam mit ihr.
Er arbeitete weiter, ging jeden Tag in die Schule, korrigierte Aufsätze und gab Nachhilfestunden. Einmal stieß er auf zwei vollkommen identische Aufsätze zu »Krieg und Frieden«, recht flüssig geschrieben von zwei sehr schwachen Schülern.
»Die haben sie sich aus dem Internet geholt«, erklärte ihm ein jüngerer Lehrer.
Rodezki hatte von seinem Sohn einen Computer geschenkt bekommen, damit sie per E-Mail Kontakt halten konnten. Das Mailprogramm benutzte er auch, ging aber ansonsten nie ins Internet. Nun wollte er es doch einmal versuchen. Der neue Zeitvertreib gefiel ihm. Im Netz hatte man Zugang zu einer riesigen Informationsmenge, ohne das Zimmer verlassen zu müssen, die Wohnung mit Büchern oder Zeitschriften zuzuschütten oder den Fernseher einzuschalten.
Nun blätterte er sich abends durch Enzyklopädien, wanderte durch die berühmtesten Museen der Welt und durch Städte, die er nie besuchen würde. Er stöberte in Artikeln zuLiteraturthemen und Bestsellerlisten. Hin und wieder schaute er in Chatrooms und las, was andere Benutzer schrieben, ohne sich selbst an den Debatten zu beteiligen.
Beim Surfen stieß er häufig auf Schmutz. Im Internet trieben sich viele Verrückte herum: Vampire, Hexen, schwarze und weiße Magier, Satanisten, Faschisten und Perverse aller Art. Vor allem gab es jede Menge Pornographie. Rodezki umging diese Dinge rasch und vorsichtig, wie schmutzige Pfützen, bemüht, nicht hineinzugeraten.
Doch eines Tages geschah es trotzdem.
In einem durchaus seriösen Chat mit klugen Diskussionen über Literatur. Einer der Teilnehmer behauptete, ein gewisser Mark Moloch sei ein Genie, ein neuer Nabokov. Das interessierte Rodezki. Er verließ den Chatroom und gab »Mark Moloch« in die Suchmaschine ein.
Der »neue Nabokov« entpuppte sich als einer der üblichen Pornographen. Doch beim flüchtigen Überfliegen seiner Texte stellte Boris immerhin fest, dass Mark Moloch eine recht flotte Schreibe hatte und nicht ohne literarisches Talent war. Als der alte Lehrer die Seite verlassen wollte, drückte er versehentlich auf einen falschen Button, und auf dem Bildschirm erschien eine Szene aus einem Pornofilm. Die Darsteller waren Kinder. Zwei Mädchen und zwei Jungen zwischen zehn und vierzehn Jahren.
Was ist denn das? Wie ist das möglich? Für so etwas muss es doch eine Zensur geben! Das ist ja kriminell! Noch dazu so offen, so ungeniert!
Boris bekam einen schweren Asthmaanfall. Er lief ins Bad, um sein Spray zu holen. Als er an den Computer zurückkehrte, war der Pornofilm ins Detail gegangen, die Kinder waren nackt und produzierten sich in verschiedenen Posen. Bloß weg damit, raus und vergessen! Sonst würde er noch verrückt. Boris griff nach der Maus und erstarrte – auf dem Bildschirm erkannte er eine Schülerin, die Achtklässlerin Shenja Katschalowa.
Drittes Kapitel
Olga Filippowa wurde einfach nicht wach. Der Wecker hatte geklingelt, sie hatte ihn auf Wiederholung gestellt und sich die
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