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In ewiger Nacht

In ewiger Nacht

Titel: In ewiger Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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die Kinder und deine Eltern.«
    Olga wollte ihrem Mann die Fernbedienung wegnehmen und den Fernseher wieder einschalten. Aber er gab sie ihr nicht, versteckte sie hinter seinem Rücken.
    »Wer hätte gedacht, dass Solowjow, dieses hässliche Entlein, sich zu einer so starken Persönlichkeit mausern würde. Macht sich gut im Fernsehen, der attraktive Grauhaarige. Du kannst ja den Blick gar nicht abwenden.«
    Olga zwang sich zu lächeln und küsste ihren Mann auf die stachlige Wange.
    »Reg dich nicht so auf, Alexander. Ich gehe mich jetzt duschen, und dann frühstücken wir. Beruhige dich, es ist alles in Ordnung.«
    Er seufzte beleidigt.
    »Du hast mir nicht geantwortet.«
    »Hast du mich denn etwas gefragt?«
    »Mama! Hast du vielleicht meinen roten Kamm?«, rief Katja aus dem Bad.
    »Ich habe dich nichts gefragt.« Alexander schüttelte den Kopf. »Ich habe dich um etwas gebeten. Versprich mir, dass du dabei nicht mitmachen wirst. Selbst wenn sie dich dazu überreden wollen – weigere dich einfach. Ganz entschieden. He, warum sagst du nichts?«
     
    Das ermordete Mädchen hieß Shenja Katschalowa. Eine Woche zuvor war sie fünfzehn geworden. Auf dem Nachtschränkchen neben ihrem Bett stand noch ein vertrockneter Strauß roter Rosen. Fünfzehn Stück. An der Vase klebte eine Postkarte, die Kopie einer berühmten Fotografie: Marilyn Monroe steht auf einem Lüftungsschacht der New Yorker U-Bahn und versucht, ihren Rock zu bändigen, der von der heißen Luft angehoben wird. Auf der Rückseite der Karte stand in krakeliger Schrift:
    »Ich gratuliere meiner geliebten Tochter Shenja zum Geburtstag, sei immer schön und glücklich! Papa.«
    Darunter das Datum und eine schwungvolle Unterschrift. Dmitri Solowjow registrierte mechanisch, dass der Autor des Glückwunsches offenbar wenig von Hand schrieb, bis auf ein Dutzend Autogramme am Tag.
    Auf dem Schreibtisch des Mädchens stand das Foto eines recht verlebten Mannes in einem billigen weißrosa Rahmen mit Teddybären und Blümchen. Dünne lange Haare verdeckten das halbe Gesicht und fielen ihm wie Schlangen auf die Schultern. Geschminkte Augen schauten schmachtend unter dem Haarschopf hervor. Über der vollen Oberlippeprangte ein sehr schmaler, wie mit Tusche gezeichneter Schnurrbart.
    Valeri Katschalow, ein Schlagerstar der frühen achtziger Jahre, hatte sechs Kinder von verschiedenen Frauen. Shenja war seine vierte Tochter.
    »Er ist nie länger als drei Jahre bei einer geblieben«, sagte Nina, Shenjas Mutter. »Eine Frau über fünfundzwanzig ist für ihn alt.«
    Der tiefsitzende Hass auf Shenjas Vater betäubte ihren Schmerz ein wenig. Solowjow hörte zu, ohne sie zu unterbrechen.
    Bei der Identifizierung war sie in Ohnmacht gefallen. Auf der Heimfahrt im Auto hatte sie geschwiegen. Bei der Haussuchung hatte sie reglos dagesessen, die Hände im Schoß gefaltet, auf Fragen nur mit »ja« oder »nein« geantwortet und sich die ganze Zeit hin und her gewiegt wie eine Puppe. Sie hatte überhaupt etwas Puppenhaftes. Solowjow konnte sich gut vorstellen, dass sie vor zehn Jahren wie eine hübsche neue Barbie ausgesehen hatte. Lange Beine, Wespentaille, Katzenaugen. Jetzt saß ihm eine abgenutzte Barbie gegenüber, mit der niemand mehr spielte. Die einstige Model-Schlankheit war zu ungesunder Knochigkeit geworden. Ihr ursprünglich dunkelblondes gewelltes Haar war nun ein matter, gelber Besen. Sie hatte es jahrelang mit Wasserstoff und Glättungsmitteln ausgebrannt, denn Seine Hoheit Valeri mochte Blondinen mit glattem Haar.
    Seine Hoheit hatte sie, die Zehntklässlerin Nina, einst in einer Moskauer Vorstadt kennengelernt, wo er nur ein einziges Konzert im Kulturhaus eines Betriebes gab. Nina war ihm in der Menge seiner Verehrerinnen aufgefallen.
    Zu Hause, in der Provinz, hatte sie nicht als Schönheit gegolten: Zu dünn, zu lang, ein zu großer Mund. Sie genierte sich für ihre Größe, ging gebeugt und knickte die Knie ein. Und plötzlich beugte sich der Moskauer Star Valeri Katschalow vor aller Augen von der Bühne zu ihr herunter, packtesie bei den Händen und pflückte sie aus der Menge wie eine Blume vom Beet.
    »Mein Gott, ich dachte, ich dreh durch! Ich musste einen ganzen Song lang neben ihm stehen. Er legte den Arm um meine Taille und flüsterte: ›Steh nicht so krumm, Dummchen!‹ Ich war damals total verblüfft, einmal, weil er so klein war, er ging mir nur bis zur Schulter, und weil er gar nicht sang, sondern nur den Mund auf und zu machte und herumhopste. Ich

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