In ewiger Nacht
Decke über den Kopf gezogen. Nach fünf Minuten klingelte er erneut. Olga setzte sich auf, und ihr Blick fiel sogleich auf den Spiegel auf der alten Frisierkommode im Schlafzimmer. Es war der freundlichste Spiegel in der Wohnung, doch heute schmeichelte auch er ihr nicht.
»Was verlangst du?«, fragte der Spiegel kalt. »Du bist einundvierzig, du bekommst nie genug Schlaf, deine Schläfen werden langsam grau. Wenn dir das nicht gefällt, färb dir die Haare. Rauch nicht so viel, reg dich weniger auf, verbring mehr Zeit an der frischen Luft, arbeite nicht mehr an Wochenenden, quäl dich nicht mit Dingen, an denen du nicht schuld bist, und auch nicht mit denen, an denen du schuld bist, denn deine Selbstvorwürfe nützen keinem etwas.«
In der Wohnung herrschte schrecklicher Lärm. In der Küche dröhnte der Fernseher, aus dem Kinderzimmer drang Rock ’n’ Roll. Katja sang den Presley-Titel mit und machte dazu ihre Gymnastik. Zwanzig Übungen für die Taille, zwanzig für die Hüften, dann ein paar spezielle Sprünge und Drehungen und schließlich Laufen auf dem Gesäß.
»Mama!« rief der Sohn. »Mama, ich kann meine Schulsachen nicht packen, wenn Katja auf dem Hintern durchs ganze Zimmer rutscht!«
»Mama!«, rief die Tochter. »Papa blockiert seit einer halben Stunde das Bad, ich muss jetzt duschen, sonst komme ich zu spät zur Schule!«
»Olga!«, ertönte, entfernt und klagend, wie ein Gebirgsecho, die Stimme ihres Mannes. »Olga! Ein sauberes Handtuch! Bitte!«
Der Wecker klingelte erneut. Ohne die Augen zu öffnen, schwang Olga die Beine aus dem Bett und ertastete mit dem Fuß einen Pantoffel.
»Mama, die Haferflocken sind alle, ich weiß nicht, was ich zum Frühstück essen soll«, verkündete die Tochter.
»Mama, hast du vielleicht mein Mathebuch gesehen, so ein blaukariertes?«, fragte der Sohn.
»Olga! Ein sauberes Handtuch! Ich warte schon seit einer Stunde!«, erinnerte sie ihr Mann.
Olga schlurfte mit nur einem Pantoffel über den Flur in die Küche.
»Heute Nacht wurde in einem Waldgebiet zwanzig Kilometer entfernt vom Moskauer Stadtring der nackte Leichnam eines etwa zwölfjährigen Mädchens gefunden«, verkündete eine muntere Stimme nach der Werbung.
»Lasst mich in Ruhe«, sagte Olga leise, öffnete endlich die Augen und merkte, dass sie in der Küche vorm Fernseher stand. »Andrej, bring Papa ein Handtuch.«
»Wieso ich?«, empörte sich der Sohn.
»Na, ich doch wohl nicht!«, sagte die Tochter kichernd.
»Vermutlich treibt sich in Moskau wieder einmal ein perverser Serientäter herum.«
Olga erstarrte vor dem Fernseher. Auf dem Bildschirm erschienen ein Stück Landstraße, eine Reihe von Milizautos, ein Straßengraben, ein Waldrand und ein Absperrband.
»Mama, wo sind die sauberen Handtücher?«, fragte der Sohn.
»In der Kammer, du Blödmann!«, antwortete an Olgas Stelle die Tochter. »Also echt, Andrej, du lebst hier wie im Hotel!«
Auf dem Bildschirm hielt eine Journalistin einem müde wirkenden Mann ein Mikrophon unter die Nase. Er war grauhaarig und sah deshalb ziemlich alt aus, doch Olga wusste, dass er erst einundvierzig war, genau wie sie.
»Konnte die Identität der Toten schon ermittelt werden?«
»Ja.«
»Wie heißt sie? Wie alt ist sie? Wie …«
»Wir stehen erst am Anfang der Ermittlungen und könnenzum gegenwärtigen Zeitpunkt keinerlei Informationen herausgeben. Wenden Sie sich an die Pressestelle.«
»Mama, kuck mal, dein Dima Solowjow!«, bemerkte Katja und schaltete den Wasserkocher ein.
»Mama, hast du mein Mathebuch wirklich nicht gesehen? Es ist wichtig! Darin liegt ein Zettel mit den Aufgaben für die Klassenarbeit!«, rief Andrej aus dem Zimmer.
»Olga, die Rasierklingen sind alle!«, klagte Alexander. Er war aus dem Bad gekommen, in einem alten Frotteebademantel.
»Das war garantiert ein Psychopath!«, erklärte überzeugt eine adrette Blondine, die nach Solowjow ins Bild kam. »Er hat den Leichnam mit Babyöl begossen, das riecht man jetzt noch. Außerdem lag ein Nuckel neben ihr.«
»Woher haben Sie diese Information?«
»Wir waren auf dem Heimweg, haben angehalten …«
Der Fernseher wurde ausgeschaltet. Olga schrak zusammen und drehte sich um. Hinter ihr stand Alexander, die Fernbedienung in der Hand.
»Nein, Olga. Nein.«
»Was?«
»Das weißt du genau. Du wirst dabei nicht mehr mitmachen. Niemals.«
»Wobei?«
»Du weißt sehr gut, wovon ich rede. Du bist damals fast verrückt geworden und hast uns alle verrückt gemacht, mich,
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