In ewiger Nacht
Augenbrauen auf. Je näher die Neunziger rückten, desto seltener wurde die Sowjetsymbolik. Das bärtige kommunistische Dreigespann wich Puschkin, Tolstoi, Gorki und Majakowski. Auf den letzten beiden Fotos prangte statt Gorki Dostojewski, statt Majakowski Pasternak.
Rodezki übernahm alle drei Jahre eine neue Klasse und führte sie von der Achten bis zur Zehnten. In siebenunddreißig Jahren hatte er zwölf Klassen gehabt. Fast viertausend Schüler. Er erinnerte sich an jeden namentlich.
Außer den Schulfotos gab es noch Familienfotos. Mehrere Generationen Rodezki. Die junge Großmutter Maria in der Uniform der barmherzigen Schwester (Kunstfoto von I. I. Rosenblatt, Jekaterinburg 1912), der junge Großvater Stanislaw Rodezki in Offiziersuniform, Fähnrich der Zarenarmee, ein Pole aus dem niederen Adel. Dasselbe Jahr, dieselbe Stadt. Und der Stempel desselben Fotoateliers. Die beiden lernten sich kennen, als sie die Fotos abholten.
Ein erschrocken wirkendes Kleinkind im Spitzenhemd vor einer felsigen Grotte, einer Sperrholzdekoration, fotografiert von Fr. de Maizière, Moskau 1917 – der einjährige Sascha Rodezki, der Vater von Boris.
Auf den übrigen Fotos gab es keine verschnörkelten Fotografenstempel,keine Spitze und keine Sperrholzgrotten. Großvater Stanislaw in Rotarmistenuniform, Großmutter Maria in einer abgewetzten Lederjacke, streng und mit kurzen Haaren. Boris’ Vater als Schüler mit Pionierhalstuch unter einem Stalinbild.
1912 war der katholische Großvater zum orthodoxen Glauben übergetreten, um die aus einer strenggläubigen Kaufmannsfamilie stammende Maria Kusina heiraten zu können. 1919 lief der Großvater als Offizier zur Roten Armee über, um nicht erschossen zu werden.
Rodezki kannte seinen Großvater nur als Invaliden, als zahnlosen, schrecklich dünnen Greis in Wattejacke. Er war 1954 in der Familie aufgetaucht, als Boris elf Jahre alt war. Dem Kind wurde erklärt, der Großvater sei von einer langen Dienstreise aus Sibirien zurückgekehrt. Er habe dort an einem geheimen Rüstungsbetrieb mitgebaut. Aber Boris wusste, dass das keine Dienstreise gewesen war. Großvater hatte im Lager gesessen, von Stalin eingesperrt. Nun war Stalin tot, und Chruschtschow hatte den Großvater rausgelassen.
Großvater Stanislaw rauchte stinkende Papirossy und hustete nachts dumpf. Er hatte Parkinson, sein Kopf zitterte, was aussah, als ob er jemandem zuhörte und dazu nickte.
Die Fotos von Rodezkis Mutter und seiner Frau Nadja steckten zusammen in einem Rahmen. Beide hatten helles, glatt zurückgekämmtes und im Nacken zu einem schweren Knoten gebundenes Haar, gerade, dunkle Augenbrauen und weiche Gesichtszüge. Seine Mutter hatte braune Augen, seine Frau graublaue. Auf den Schwarzweißfotos sah man den Unterschied nicht. Auch den zeitlichen nicht. Seine Mutter war auf dem Foto fünfunddreißig, seine Frau im selben Alter. Sie ähnelten sich wie Schwestern.
Daneben, auch zusammen in einem Rahmen, hingen die Fotos seines Vaters Alexander und seines Sohnes Stanislaw, ebenfalls im selben Alter, beide mit siebenunddreißig. Doch sie sahen sich kein bisschen ähnlich. Sein Vater hatte eineGlatze, eine große, breite Nase und trug eine runde Brille. Sein Sohn hatte dichtes helles Haar, ein längliches, regelmäßiges Gesicht und eine edle schmale Nase.
Von den vier Rodezki am nächsten stehenden Menschen lebte nur noch sein Sohn. Rodezki hatte ihn vor drei Jahren zum letzten Mal gesehen, nach Nadjas Tod. Stanislaw, inzwischen Augenarzt, war aus Amerika angereist, hatte es aber nicht mehr zur Beerdigung seiner Mutter geschafft. Nach einer Woche bei seinem Vater war er zurückgeflogen nach Boston. Dort hatte er eine hochbezahlte Stelle in einer Klinik, seine amerikanische Frau Joy und zwei Kinder, die fünfjährige Sonja und die dreijährige Nadja. Boris Rodezki hatte seine Enkelinnen noch nie gesehen. Das große Farbfoto der beiden blonden Mädchen stand auf einem Ehrenplatz auf dem Schreibtisch.
Stanislaw lud seinen Vater immer wieder ein, nach Boston zu kommen, aber Rodezki zögerte jedesmal, er wollte erst seine jeweilige Klasse zum Abschluss führen.
Die Schule, in der er sein Leben lang unterrichtet hatte, galt als eine der besten Moskauer Spezialschulen. Die Regierung wechselte, die Lehrbücher wurden umgeschrieben, Direktoren kamen und gingen. Boris Rodezki aber unterrichtete nach wie vor russische Sprache und Literatur in den oberen Klassen.
Er fand die Literatur interessanter und verlässlicher
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