In ewiger Nacht
hatte keine Ahnung von ›Playback‹. Als der Song zu Ende war, dachte ich, nun ist alles aus, das ganze Leben. Ich wollte runter von der Bühne, wegrennen und mich in Großmutters Schuppen verkriechen. Ach, hätte ich das nur getan! Aber dann hätte ich Shenja nicht bekommen.«
Sie verstummte und blickte Solowjow aus trockenen Augen an. Sie wirkte, als sei sie aus einer langen Narkose erwacht. Solowjow fürchtete, sie würde gleich wieder in Starre verfallen, die Arme um sich schlingen und sich vor und zurück wiegen. Aber nein. Sie griff nach einer Zigarette.
»Vorgestern ist Shenja zu ihrem Vater gefahren. Sie sollten mal mit ihm reden.«
»Unbedingt.« Solowjow nickte und ließ sein Feuerzeug aufschnappen. »Wollte sie bei ihm übernachten?«
»Ja. Sie liebte das. Bei ihm ist ständig was los. Dauernd neue Leute, von früh bis spät Party. Hier zu Hause ist es öde. Ich nerve sie, zwinge sie zum Lernen. Wissen Sie, ich möchte nämlich, dass sie einen guten Schulabschluss macht und studiert.«
Solowjow stand schweigend auf und ging durch die winzige saubere Küche zum Fenster. Es fiel ihm schwer, ihr in die Augen zu sehen, die so trüb und erloschen wirkten wie auf totes Plastik gemalt. Sollte er sie etwa daran erinnern, dass Shenja nun nie mehr die Schule abschließen, nie mehr studieren würde? Sie hatte alles vergessen – die Pathologie, den Marmortisch, das Laken mit dem Stempel, das kurz angehoben worden war, um ihr Shenjas Gesicht zu zeigen. Nein, sie erinnerte sich genau daran. Aber es war leichter fürsie, wenn sie von Shenja in der Gegenwart sprach. Sie konnte einfach noch nicht anders.
»Bei der Identifizierung hat der Arzt gefragt, warum mein Mädchen so dünn ist. Ich habe darauf nicht geantwortet, weil mir schlecht wurde. Aber ich will es Ihnen sagen. Shenja ernährt sich nur von Äpfeln und grünem Salat ohne Öl. Sie möchte Model werden. Und leidet furchtbar, weil sie so klein ist. Da kommt sie nicht nach mir, sondern nach ihrem Papa. Er ist nur eins siebenundfünfzig. Auf der Bühne fällt das nicht weiter auf, außerdem trägt er Schuhe mit Plateausohlen. Ist zwar unbequem, macht aber drei Zentimeter größer. Plus fünf Zentimeter hohe Absätze. Wissen Sie, als er mich verließ, war ich nicht sehr verzweifelt. Er überließ mir und Shenja die Wohnung hier und gab uns Geld. Manchmal kam er für ein paar Tage oder eine Woche zurück. Wenn er mich auf einer Party traf, feststellte, wie gut ich aussah, oder erfuhr, dass ich einen anderen hatte, dann kam er sofort angelaufen, der Mistkerl, wie ein Hund, der sein Terrain verteidigt. Aber dann hörte auch das auf. Das heißt, Geld gibt er uns immer noch. Nicht regelmäßig, aber immerhin. Im Prinzip verdiene ich selbst. Ich besuche Lehrgänge für Psychologie und Psychoanalyse und habe schon ein paar eigene Klienten. Mein Gott, an allem ist nur er schuld! Warum habe ich sie bloß zu ihm gehen lassen? Ich war doch dagegen, als hätte ich es geahnt! In der Schule werden gerade in allen Fächern Klausuren geschrieben. Wir haben uns gestritten, ich wollte, dass sie sich hinsetzt und lernt. Hab sie natürlich angeschrien. Wenn wir uns streiten, wissen Sie, dann sagt sie keinen Ton, sieht mich nur an. Schrecklich! Ich verstehe sie überhaupt nicht mehr.«
»Haben Sie bei Shenjas Vater angerufen, als sie dort war?«, fragte Solowjow in ihre Atempause hinein.
»Nein. Ich rufe ihn nie an. Nur Shenja, auf ihrem Handy. Ich wollte mich mit ihr versöhnen. Aber sie ist nicht rangegangen.«
»War ihr Telefon die ganze Zeit angeschaltet?«
»Nein. Sie hat es erst gestern Abend angeschaltet und dann vergessen. Wahrscheinlich lag es dort irgendwo rum. Die Wohnung ist riesengroß, ein Haufen Leute, laute Musik. Valeri hat Shenja übrigens vor kurzem in einem seiner Videoclips mitmachen lassen. Sie hat sogar Geld dafür gekriegt. Wollen Sie mal sehen?«
Solowjow wusste nicht, was er antworten sollte. Er saß schon seit über einer Stunde in dieser Küche, mit einer Mutter, deren einziges Kind ermordet worden war. Wenn er ging, war sie ganz allein.
Er hatte erfahren, dass Shenja im Grunde sehr kontaktfreudig war, hin und wieder aber düstere Phasen hatte, und dann sprach man sie lieber nicht an. Drogen hatte sie wie alle Kinder heutzutage natürlich probiert, aber ihrer Mutter war bislang nichts Beunruhigendes aufgefallen. Diskos, Cafés – ja, das mag sie. Allerdings kann sie materiell mit ihren Freunden nicht mithalten, deren Eltern sind von ganz anderem
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