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In ewiger Nacht

In ewiger Nacht

Titel: In ewiger Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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anderen Geräusche; er wälzte sich auf dem nassen Boden, riss taufeuchtes Gras heraus und Zweige von den Bäumen, grub seine Fingernägel in weiche Birkenrinde.
    Mitten in einem solchen qualvollen Anfall vernahm er deutlich eine Kinderstimme.
    »Wer ist da?«
    Ein zwölfjähriges Mädchen mit einem Stock lief sehr langsam durch das Gras.
    Später erfuhr er, dass sie erst vor kurzem erblindet und aus einem normalen Waisenhaus in das Blindenheim umgezogen war. Sie hatte in der Nacht versehentlich das Heimgelände verlassen.
    Sie war sehr hübsch. Weißblonde Locken, ein schmales, regelmäßiges Gesicht. Vielleicht war sie noch nie in dem großen Haus gewesen. Aber man würde sie bald dorthin bringen.
    Danach lebte der Wanderer sehr lange, ein Jahr und zwei Monate, in der Hominidenhaut und gestattete sich nicht einmal nächtliche Spaziergänge. Die Hominiden waren ernstlich aufgeschreckt. Die Kinder fuhren nicht mehr in die Wolfshöhle. Das Heimgelände wurde rund um die Uhr bewacht. Der Wanderer verwandte seine ganze Kraft darauf,sich abzusichern, durchdacht und umsichtig. Er errichtete einen so tadellosen und zuverlässigen Schutzwall, dass er Mitte Juli, als sich eine Gelegenheit ergab, noch einen weiteren Engel befreite.
    Die Wachleute waren abgezogen worden. Der Wanderer fuhr am späten Abend von Moskau nach Dawydowo, in einem normalen Anzug, ohne künstlichen Bart, Perücke und schwarze Brille, unter dem Anzug die dicke Hominidenhaut. Als er an der Bahnschranke halten musste, entdeckte er auf dem Bahnsteig ein Mädchen. Sie war gerade aus dem Zug gestiegen und ging vorsichtig zur Treppe.
    Er überquerte die Gleise und wartete auf sie. Sie war fast erwachsen, etwa sechzehn, und nicht vollkommen blind, nur stark sehbehindert. Der Wanderer wusste, dass sie nur ein kurzes Stück die Chaussee entlanggehen und dann in den Wald abbiegen würde. Dort am Waldweg erwartete er sie, überzeugte sich, dass niemand in der Nähe war, kurbelte das Fenster herunter, sprach sie an und schlug ihr vor, sie zum Heim zu fahren. Er lächelte freundlich – Blinde können das Lächeln zwar nicht sehen, erkennen es aber an der Stimme.
    Sie willigte ein. In ihrer Tasche lag ein dickes, schweres Buch in Blindenschrift. Im Auto erzählte sie, sie sei in der Blindenbibliothek gewesen, weil sie unbedingt dieses Buch ausleihen wollte – »Vom Winde verweht«. Sie sei so spät dran, weil sie sich verlaufen habe, in den falschen Bus gestiegen sei und sich lange nicht getraut habe, nach dem Weg zum richtigen Bahnhof zu fragen.
    »Warst du schon mal in dem großen Haus auf der anderen Seeseite?«, fragte er.
    »In welchem Haus? Ich weiß von nichts!«
    Ihr Erschrecken und das Zittern in ihrer Stimme verrieten, dass sie schon dort gewesen war und Bescheid wusste.
    »Halten Sie an, lassen Sie mich raus! Ich gehe zu Fuß weiter! Bitte, halten Sie an!«
    Er hielt, ließ sie aber nicht aussteigen. Sie rüttelte an der Tür.Er wusste, sie würde weglaufen und schreien. Er versetzte ihr einen Handkantenschlag gegen die Halsschlagader, bog in den Waldweg ein und parkte abseits von der Chaussee.
    Sie war schon tot, als er sie durch den Wald zum See schleppte. Er schnitt ihr mit dem Taschenmesser eine Haarsträhne ab, denn er hatte keine Schere dabei. Nachdem er die Leiche den Abhang hinuntergeworfen hatte, untersuchte er sorgfältig die Kleidung des Mädchens. Dann ging er zum Auto zurück, holte ihre Tasche und warf sie weg.
    Als Trophäen nahm er außer den Haaren die Brille mit den Linsengläsern und einen silbernen Ring mit einem Türkis an sich.
    Die Haare und die anderen Dinge der Toten sammelte er nicht aus Sentimentalität – die Schatulle aus Birkenbast, in der er sie aufbewahrte, gehörte zu seinem Plan.
    Es gelang ihm, die Hominiden so geschickt zu täuschen, dass niemand etwas argwöhnte. Die Missgeburt mit der Hasenscharte, der Sportlehrer aus dem Heim, war die ideale Besetzung für die Rolle des Serienmörders. Er stand bereits unter Verdacht. Das letzte Hindernis war der Hund, der das Haus des jämmerlichen Hominiden bewachte, aber das war kein großes Problem.
    Viel schwieriger war es, weiter in der ewigen Nacht zu leben, eingesperrt in die dicke Hominidenhaut.
     
    Vor dem Schlafengehen sah Solowjow noch einmal Shenjas Anruflisten durch und beschloss, am nächsten Morgen Professor Guschtschenko anzurufen und ihn nach dem Würger von Dawydowo zu fragen. Dessen Serie hatte vieles gemeinsam mit der jetzigen. Olga und der alte Lobow hatten

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