In ewiger Nacht
geblieben, nur das arme Waisenkind. Ich ziehe sie groß, so gut ich kann, aus letzter Kraft – ich bin ja durch und durch krank, ich habe Zucker und hohen Blutdruck.«
Ika wagte nie, sich bei jemandem zu beklagen. Sie fürchtete, man würde ihr nicht glauben oder der Tante davon erzählen, und die würde sie ins Heim stecken. Sie stotterte immer heftiger, einen ganzen Satz zu sprechen war eine schreckliche Qual. Trotzdem war sie eine gute Schülerin. In schriftlichen Arbeiten bekam sie Einsen und Zweien, nur im Mündlichen versagte sie und wurde aus Mitleid kaum an die Tafel gerufen.
Freunde hatte sie so gut wie keine. Früher wollten viele mit ihr befreundet sein, ihre Eltern hatten Kinderfeste arrangiert, bei denen alle Gäste Geschenke erhielten. Nun konnte sie niemanden mehr zu sich einladen, die Tante erlaubte es nicht. Und wegen ihres Stotterns konnte sie sich kaum mit jemandem unterhalten.
Die Tante redete ihr ständig ein, sie sei hässlich, sie brauche sich gar nicht vorm Spiegel zu drehen. Die Kleider, die sie für Ika kaufte, waren solide und nicht billig, damit niemand dachte, sie würde an der armen Waise sparen. Aber all die Röcke, Pullover, Jacken, Schuhe und Stiefel waren so hässlich, dass Ika jedesmal übel wurde, wenn sie sie anzog, und tatsächlich nicht mehr in den Spiegel schauen mochte.
Ika konnte ihre Tante, die ständig Gemeinheitenüber sie und ihre tote Mutter erzählte, nicht zum Schweigen bringen. Sie musste sich das alles anhören und fühlte sich wie eine Verräterin, wie ein Nichts. Die Gymnastik hatte sie längst aufgegeben und war schlaff, träge und gleichgültig geworden. Sie trug einen absichtlich hässlichen Haarschnitt und aß unentwegt. In anderthalb Jahren nahm sie zehn Kilo zu. Ihr Gesicht war hässlich aufgedunsen, die Haut unrein. Ihr Haar stand nach allen Seiten ab. Sie ging krumm, den Kopf zwischen den Schultern.
Ika litt still unter Einsamkeit, Demütigung und dem bodenlosen Hass der Tante. Der einzige Mensch, der sich hin und wieder um sie kümmerte, war ihre Freundin Marina. Sie wohnte gleich nebenan und war mit ihr zusammen in der Gymnastiksektion gewesen.
Marina war zwei Jahre älter und sah umwerfend aus. Eine große schlanke Blondine mit blauen Augen und vollen Lippen. Mit fünfzehn wurde sie »Miss Bykowo«. Sie fuhr nach Moskau, bewegte sich im Dunstkreis von Modelagenturen und Schönheitswettbewerben und heiratete schließlich den Popstar Valeri Katschalow.
Sie kam oft nach Bykowo, besuchte ihre Eltern und traf sich mit Ika.
»Was ist los mit dir?«, fragte sie Ika eines Tages. »Bist du krank? Wirst du mit Hormonen behandelt?«
»Nein. Das mache ich mit Absicht«, bekannte Ika und erzählte ihren Kummer zum ersten Mal nicht ihrem Kopfkissen oder einem Grabstein, sondern einem lebendigen Menschen. Marina hörte sie so geduldig und mitfühlend an, dass Ika kaum stotterte.
Sie saßen in der Nacht in der sauberen kleinen Küche von Marinas Eltern, rauchten und tranken Kaffee und teuren französischen Cognac.
»Weißt du was, hau doch einfach ab«, sagte Marina, »mach die Schule fertig, und dann hau ab.«
»W-wohin? W-er b-braucht mich d-denn? W-wo soll ich w-wohnen?«
»Wohnen kannst du erst mal bei uns. Die Wohnung ist groß, du hilfst mir ein bisschen im Haushalt. Immer noch besser als bei deiner Tante.«
Ja, das war wirklich besser.
»Hör mal, du hast echt Talent«, sagte Matwej.
Sie zuckte zusammen und wandte sich um. Auf dem Bildschirm strippte sie noch immer.
Die Naziunform hatte Mark aus dem Fundus eines alten Filmstudios ausgeliehen. Auch die gestreiften Anzüge mit den Nummern, die Stas und Shenja trugen, stammten von dort. Jegorka spielte den Offizier. Großer Schwachsinn, das Ganze. Bis auf Ikas Tanz. Bis sie nur noch die Mütze trug – der Rest war ein gewöhnlicher Porno. Aber Mark meinte, eine Story müsse unbedingt sein.
»Tja, meine Sonne, wenn er sie nicht nebenbei noch verkauft hätte, könnte man ihn glatt einen Künstler nennen«, sagte Matwej. »Schön, den hübschen Film sehen wir uns später an. Wie du vielleicht schon kapiert hast, interessieren uns die anderen Filme, die unschönen. Du weißt doch bestimmt, wo Mark die Videos mit den Kunden aufbewahrt.«
»Er hat keine K-kunden gefilmt«, sagte Ika und wusste im selben Moment, wie sinnlos das war.
»Wenn er das nicht getan hätte, säßen wir jetzt nicht hier und würden mit dir reden, mein Kind. Und er würde nicht in der Klapsmühle verfaulen.«
»Wenn Sie
Weitere Kostenlose Bücher