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In ewiger Nacht

In ewiger Nacht

Titel: In ewiger Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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füllten sich die Flure mit Geschrei und Gepolter. Rodezki war an diesen Lärm gewöhnt und mochte ihn, doch jetzt zerfetzten die Kinderstimmen und das Getrappel unzähliger Füße ihm das Gehirn. Er lief den Flur entlang, noch immer den Schal in der Hand knüllend. Schwankend und mit den Beinen rudernd, als liefe er über Wasser, erreichte er schließlich das Lehrerzimmer am Ende des Flurs, in einiger Entfernung von den Klassenräumen. Hier war es wesentlich ruhiger.
    »Regen Sie sich nur nicht auf«, flüsterte Vera ihm ins Ohr und reichte ihm die Aktentasche, die sie aus der Garderobe mitgenommen hatte. »Wenn was ist – ich habe Baldrian und Valocordin.«
    »Danke.«
    Die Tür ging auf. Aus dem Lehrerzimmer kam Karina Awanessowa, die Augen tränennass. Als sie Rodezki entdeckte, packte sie ihn am Arm, als fürchte sie zu fallen, und flüsterte: »Sagen Sie denen nichts von dem Tagebuch, bitte!«
    Ein rothaariger junger Mann in Jeans und weitem grauem Pullover erschien in der Tür und ließ seinen Blick über das Gesicht des alten Lehrers gleiten.
    Lehrer waren keine im Raum. Der Rothaarige war Oberleutnant Anton Gorbunow. Außer ihm waren noch zwei weitere Männer anwesend. Ein beleibter uniformierter Major stand am Fenster und telefonierte leise. Der zweite, ein hagerer Mann in Zivil mit grauem Igelschnitt, saß am Tisch und schrieb sehr schnell.
    »Guten Tag, setzen Sie sich«, sagte der Grauhaarige und schrieb weiter. »Ich bin Dmitri Solowjow, ich leite die Ermittlungen.«
    »Das kann nicht sein«, sagte Rodezki und wunderte sich über den Klang der eigenen Stimme, als hätte nicht er gesprochen, sondern ein anderer.
    »Verzeihung?« Der Ermittlungsleiter sah auf und legte den Stift beiseite.
    »Wann?« Rodezki räusperte sich heiser. »Wann ist es geschehen?«
    »In der Nacht von Sonntag zu Montag. Zwischen zwölf und eins.«
    »Das kann nicht sein, das ist ein absurder Irrtum.«
    »Wann haben Sie Shenja Katschalowa zum letzten Mal gesehen?«
    »Wann ich Shenja … Ja. Wir haben uns am Sonntagabend getroffen, gegen zehn. Aber sagen Sie, haben Sie schon mit ihrem Onkel gesprochen?«
    »Mit ihrem Onkel?« Der Kriminalist hob leicht die Braue. »Shenja hat einen Onkel?«
    »Der ältere Bruder ihrer Mutter. Er war gestern Abend beimir zu Hause, er wollte mit mir über Shenja reden. Das Mädchen hat große Probleme, und er ist der Einzige, der davon weiß. Shenja hat ihm alles erzählt. Ich wusste es schon, durch Zufall, sie hat es mir nicht selbst erzählt. Aber das ist ein Thema für sich. Davon später.« Rodezki fürchtete, sich gleich vollends zu verheddern und die Kriminalisten zu verwirren, und redete hastig weiter. »Der Onkel heißt Michail. Er war lange im Ausland und ist erst kürzlich zurückgekehrt. Sie müssen sich unbedingt mit ihm in Verbindung setzen. Nein, warten Sie. In der Nacht von Sonntag zu Montag, sagten Sie? Dann war Shenja also schon tot, als er mit mir über sie sprach? Das heißt, er wusste noch nichts davon? Ja, so war es wohl.«
    Es wurde still im Raum. Die drei Männer sahen den alten Lehrer an. Er stand in der Mitte, die Aktentasche in der einen Hand, den Schal in der anderen. Plötzlich verstummte er, hustete und presste die Hand auf die Brust. Aktentasche und Schal fielen zu Boden. Sein Gesicht wurde kreideweiß, Schweiß trat ihm auf die Stirn. Er atmete keuchend und heiser.
    »Ist Ihnen nicht gut?«, fragte der Ermittlungsleiter.
    Rodezki suchte in seinen Taschen nach dem Asthmaspray. Seine Hände zitterten. Er förderte eine Packung Papiertaschentücher, eine Brille und einen Stift zutage. Alles fiel herunter, aber er schien es gar nicht zu bemerken. Das Spray fand er nicht. Er hatte es in die Manteltasche gesteckt.
    »Bitte … In der Garderobe … Mein Mantel …«, keuchte er.
    »Was? Ein Medikament? Was haben Sie? Das Herz?« Der rothaarige Leutnant rannte zur Tür.
    »Asthmaspray«, sagte Rodezki und erlitt einen erneuten Hustenanfall.
    »Brauchen Sie einen Arzt?«, fragte der Ermittlungsleiter. »Setzen Sie sich doch wenigstens.«
    Rodezki sank auf einen Stuhl und knöpfte sich den Hemdkragen auf. Solowjow hob die heruntergefallenen Sachen vom Boden auf. Die Aktentasche, den Schal, die Papiertaschentücher, die Brille, den Stift und noch etwas: eine rosa Haarspangein Form einer Schleife mit glitzernden kleinen Strasssteinen. Er nahm sie mit zwei Fingern und hielt sie gegen das Licht. Der dicke Major eilte dazu und stieß einen leisen Pfiff aus. In der Spange hing ein

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