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In ewiger Nacht

In ewiger Nacht

Titel: In ewiger Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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der Bärtige und packte sie so heftig am Arm, dass sie beinahe das Tablett fallen lassen hätte. »Wie alt bist du?«
    »S-siebzehn«, antwortet Ika. »W-was wollen Sie von m-mir? L-lassen Sie mich d-durch!«
    Sie brachte das Tablett ins Wohnzimmer, doch als sie wieder in die Küche ging, saßen die beiden dort, rauchten und stritten weiter.
    »Der Pygmalion-Mythos ist natürlich ein hübsches Sujet und wurde von vielen mit Erfolg benutzt, aber es ist nur ein Mythos«, sagte der Glatzkopf. »Bei Shaw ist das sehr nett, aber wenn du dich erinnerst, werden dem Mädchen dort nur gute Manieren und eine anständige Sprache beigebracht. Äußerlich war Elisa Doolittle tipptopp. Doch bei dir ist das Mädchen am Anfang ein fettes Schwein und abgrundtief hässlich.«
    »Richtig.« Der Bärtige nickte. »Professor Higgins und ich haben unterschiedliche Ziele. Er schafft eine Dame, ich eine Pornodiva.«
    Ika war schon zweimal hin- und zurückgelaufen, und die beiden stritten noch immer und schauten dabei dauernd zu ihr.
    »Gut«, sagte der Glatzkopf, »ich setze dreihundert Dollar.«
    »Willst du mich verarschen?« Der Bärtige lachte. »Allein die Zähne kosten das Dreifache.«
    »An wie viel hast du denn gedacht?«
    »Wenigstens tausend. Wenn’s nicht klappt, kriegst du sie in einem halben Jahr zurück.«
    »Vielleicht sollten wir sie erst mal fragen?« Der Glatzkopf packte Ikas Arm. »Halt. Wie heißt du?«
    »I-irina.«
    »Und du bist also erst siebzehn?«
    »Ja. W-was wollen Sie v-von mir?«
    »Beruhige dich. Setz dich«, sagte der Bärtige. »Wir müssen mit dir reden.«
    Er hatte eine sanfte, tiefe Stimme. Er konnte ihr in die Augen sehen, ohne zu blinzeln. Er griff nach ihrer Hand und streichelte und massierte sie leicht. Mit seinen hervorquellenden braunen Augen und seinen warmen Fingern hypnotisierteer sie gleichsam. Und statt ihn zum Teufel zu schicken, ließ sie sich auf ein Gespräch ein und hörte dabei fast auf zu stottern.
    »Irina, möchtest du gern schön sein?«, fragte der Bärtige, während seine warmen Finger ihre Hand kitzelten.
    »Ist d-doch egal, das w-wird ja sowieso nichts.«
    »Wetten, dass doch?«
    »Wie?«
    »Ganz einfach. Du musst dreißig Kilo abnehmen, deine Zähne richten lassen, Haut und Haare in Ordnung bringen. Komm, steh mal auf! Dreh dich um! Siehst du, deine Proportionen sind okay und dein Gesicht auch. Du bist ein Schmetterling, wird Zeit, aus der Larve zu schlüpfen und die Flügel auszubreiten. Übrigens, wenn du erst schön bist, wirst du auch nicht mehr stottern. Das kommt nämlich nur von den Komplexen, und die hast du dann nicht mehr nötig. Also, bist du bereit? Ich helfe dir.«
    »W-warum?«
    »Weil ein Schmetterling sich besser fühlt als eine fette Raupe.«
    Der Glatzkopf schwieg, lächelte und schüttelte den Kopf. Der Bärtige hielt noch immer Ikas Hand. Marina kam herein, lachend über einen Witz, den jemand im Wohnzimmer erzählt hatte.
    »Ich nehme sie mit«, sagte der Bärtige zu Marina.
    »Wen?«, fragte Marina lachend.
    »Sie hier, deine Haushaltshilfe.«
    »Wozu?«
    »Ich mache in einem halben Jahr eine Schönheit aus ihr, und dann heirate ich sie vielleicht.«
    »Spinnst du?« Marina lachte noch immer. »Ika, hör nicht auf ihn, komm mit, das Geschirr muss abgeräumt werden.«
    »Komm mit, Ika. Sie kann dich mal mit ihrem Geschirr!« Auch der Bärtige lachte.
    Dass er Mark hieß und Schriftsteller war, erfuhr Ika, alssie im Taxi saßen. Erst nach drei Tagen rief sie Marina an, entschuldigte sich und sagte, sie könne ihre Sachen alle wegwerfen oder Obdachlosen schenken. Marina zog über Mark her – er sei ein Mistkerl und Hochstapler, das sei wieder mal eine seiner typischen Spinnereien, er würde Ika bald satthaben und sie rausschmeißen.
    »Ich warte natürlich noch eine Weile ab, aber du weißt, lange komme ich ohne Hilfe nicht aus …«
    Ika hörte sich alles brav an, dankte Marina und sagte, sie brauche nicht abzuwarten.
    Das folgende halbe Jahr war das glücklichste in ihrem Leben. Mark hatte eine kleine Wohnung in der Woikowskaja gemietet. In dem einzigen Zimmer standen ein Computertisch, eine kleine Kommode mit Fernseher und Videorekorder, Marks breites Bett und ein Klappbett für Ika. Jeden Morgen wurde das Klappbett weggeräumt, eine Decke auf den Boden gelegt, und Ika machte Gymnastik, erst zwanzig Minuten, dann vierzig, dann anderthalb Stunden. Zum Frühstück gab es einen Becher Joghurt oder eine Schale eingeweichter Haferflocken mit Honig, zum Mittag

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